Jeden Tag ein Verbot übertreten – das ist doch mal ein mutiger Ansatz. Drei Jungen im Alter von elf, zwölf Jahren sind es, die sich gemäß dieser Maxime verhalten. Ihre Grenzüberschreitungen sind umso bemerkenswerter, als sie sich auf einem Schiff befinden, also in einer geschlossenen Gesellschaft, der sie nicht entkommen können. Dieses Schiff ist unterwegs von Sri Lanka, das im Jahr 1954 noch Ceylon hieß, nach England. An Bord sind Auswanderer oder Transitreisende, die sich zwischen den Welten bewegen. Unter ihnen war damals auch der elfjährigen Michael Ondaatje, der seiner Mutter folgte, die schon seit ein paar Jahren in England lebte und an die er sich kaum noch erinnerte.
In England ging Ondaatje zur Schule, bevor er dann nach Kanada emigrierte, kanadischer Staatsbürger und ein Schriftsteller von Weltrang wurde. In dem Roman „Es liegt in der Familie“ kehrte er auf der Suche nach dem abwesenden Vater schon einmal in die Kindheitsheimat zurück. Jetzt beschreibt er die Schiffspassage als Ausgangspunkt seiner Lebensreise von Ost nach West und vielleicht als ein Sinnbild der Migration. Drei Wochen dauerte die Fahrt über Indischen Ozean, Rotes Meer, Suezkanal, Mittelmeer und Atlantik. Das Schiff ist der Nukleus, in dem sich die Existenz der unterschiedlichsten Menschen für einen kurzen Zeitraum verdichtet. Hier kreuzen sich die Lebenswege, und das noch undefinierte, junge Leben des Ich-Erzählers Michael, den seine neuen Freunde nach einem immerzu plappernden Vogel „Mynah“ nennen, erfährt entscheidende Prägungen. „Manchmal finden wir unser wahres, ganz und gar uns gehörendes Ich in der Jugend“, schreibt der Erzähler im Rückblick viele Jahrzehnte später. „Dann erkennen wir etwas in uns, das anfangs winzig ist und in das wir hineinwachsen werden.“ Um sich zu begreifen, muss er also dorthin zurückkehren.
Während das Schiff die Wellen des Meeres durchpflügt, steht die Zeit für ein paar Wochen still. Die drei Jungen – neben „Mynah“ der schon etwas ältere, draufgängerische Cassius und der bedächtige, sein krankes Herz schonende Ramadhin – stecken in der Phase kurz vor der Pubertät. Ohne Eltern, ganz auf sich gestellt, sind sie fast schon Erwachsene, zugleich aber auch noch Kinder, die voller Neugier und so beweglich wie Quecksilber jeden Winkel des Schiffs und die Gesellschaft der Mitreisenden erkunden. Im Speisesaal sitzen sie am „Katzentisch“, der am weitesten vom Tisch des Kapitäns entfernt ist. Doch da finden sie die interessantesten Menschen: die nur scheinbar altjüngferliche Miss Lasqueti mit ihren Tauben oder den munteren Musiker Mr. Mazappa, der sich als Pianist Sunny Meadows nennt und Mr. Daniels, der im Bauch des Schiffes einen Kräutergarten kultiviert. „Nichts von bleibendem Wert ereignet sich je am Tisch der Mächtigen, wo altvertraute Phrasen Kontinuität garantieren“, lernt Michael. Zu den Lektionen, die er auf dem Schiff erhält, gehört auch die Einsicht, dass es oft Fremde sind, die unser Leben bereichern, auch wenn sie nur vorübergehen, ohne dass man näher mit ihnen zu tun hat.
In einer Nachbemerkung betont Ondaatje, dass es sich um einen Roman mit fiktiven Figuren handle, auch wenn er auf Erinnerungen und autobiografischem Material aufbaue. In früheren Romanen hat er immer wieder vorgeführt, dass auch das Leben realer Figuren ohne Fiktion und Einfühlung nicht darstellbar ist. Wenn er über Billy the Kid oder den Jazzmusiker Buddy Bolden oder über den Grafen Almásy in „Der englische Patient“ schrieb, ging es immer auch um den rätselhaften Prozess, wie Wissen überhaupt entsteht und wie es sich zur Einbildungskraft verhält. So ist auch „Katzentisch“ allenfalls auf einer höheren Ebene autobiographisch, nicht in den Details, nicht in den einzelnen Figuren und nicht im Handlungsgeschehen, aber doch im Ergebnis: in der Bedeutung, die diese Fahrt lebensgeschichtlich annahm und die den Protagonisten damals nur als Intensität des Augenblicks gegenwärtig sein konnte.
Erzählerisch öffnet Ondaatje den engen Schiffsraum immer wieder in die Vergangenheit und Zukunft hinein, bringt Szenen aus der ceylonesischen Vorgeschichte und führt einzelne Lebensläufe weiter, sofern Michael später davon Kenntnis erhielt. Er schildert den traurigen Tod Ramadhins mit seinem empfindlichen Herzen, berichtet von einer Ausstellung von Cassius, der zum Maler wurde, und erkennt auf dessen Bildern die gemeinsam erlebte Nacht auf dem Suezkanal wieder. Und schließlich ist da noch die erotisch irrlichternde Cousine Emily, bei der Michael auf dem Schiff einen Moment intimer Nähe erlebt, eine frühe, präsexuelle Initiation, die ihn verändert, als hätte ihn „eine Hand aus der Wüste“ ergriffen. Jahrzehnte danach, als aus ihm längst ein bekannter Schriftsteller geworden ist, sieht er Emily auf einer kleinen kanadischen Insel in eher trauriger Umgebung wieder. Das Leben geht mit all diesen Figuren hart um; ihre gemeinsame Zeit auf dem Schiff war eine Atempause, glücklich schon deshalb, weil auf der Basis der provisorischen Zwischenzeit eine Gemeinschaft entstand, wie sie später nie wieder zu finden war.
Wie in jeder Seefahrergeschichte lauern auch hier Gefahren und Abenteuer. Doch es sind nicht die Ungeheuer oder die Piraten, die für Aufregung sorgen, sondern die Menschen selbst. Nacht für Nacht wird ein Gefangener in schweren Ketten auf Deck ausgeführt, und es ist klar, dass von ihm, den das Gerücht umgibt, ein Meister der Flucht zu sein, noch einige Unruhe zu erwarten ist. „Katzentisch“ ist ein Roman voller Geschichten und intensiver Augenblicke. Er handelt von der Sehnsucht nach dem echten Leben und davon, dass dies vielleicht nur in der Phantasie erreichbar ist. Ondaatje fasst dieses Grundgefühl in starke Bilder. Als auf Deck einmal ein Kinoabend stattfindet – Michael sieht hier zum ersten Mal in seinem Leben einen Film – kommt ein Sturm auf. Der Regen verdampft zischend auf dem heißen Projektor, die Leinwand weht über Bord und über das Wasser, die Bilder zerflattern. So funktioniert auch der Roman selbst. Doch die verloren gegangen Bilder sind darin aufgehoben. Ondaatje spielt sie ab in seinem Lebenskino.
Jörg Magenau
Michael Ondaatje: Katzentisch
Roman. Aus dem Englischen von Melanie Walz
Hanser Verlag, München 2012
304 Seiten, 19,90 Euro
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