„Schuld“ und „Verbrechen“ hießen die beiden Erzählungsbände, die den erfolgreichen Strafverteidiger Ferdinand von Schirach zum Bestsellerautor machten. Schuld und Verbrechen – das klang ein wenig nach Dostojewski, lebte aber vor allem vom Echtheitsversprechen: Da wusste einer Bescheid über Juristerei und menschliche Abgründe, hatte genügend Stoff aus der Praxis, dazu eine lakonisch knappe und unterkühlte Erzählweise und keine Scheu, ohne mit der Wimper zu zucken in tiefen Fleischwunden zu bohren. Gut und böse liegen dicht beieinander, und oft ist es nur ein Zufall, ob ein Mensch Täter oder Opfer wird: Das war die wichtigste Lehre aus diesen Geschichten. Von Schirach hat sie nun noch einmal zum Mitschreiben in einem „Spiegel“-Essay formuliert, der das Erscheinen seines ersten Romans „Der Fall Collini“ publizistisch flankiert. Er hätte ihn, um bei Dostojewski zu bleiben, auch „Sühne“ nennen können.
Im Roman – und im Begleitessay – setzt er sich mit der Frage auseinander, ob Schuld vererbbar ist und was von ihr nach mehr als fünfzig Jahren übrig bleibt. Ferdinand von Schirach ist der Enkel von Hitlers Reichsjugendführer Baldur von Schirach. Mit der historischen Last, die dieser Name signalisiert, hat er sich zeitlebens herumzuschlagen, und vielleicht ist er deshalb ja auch Jurist geworden. Andererseits dürfte der Name auch einen Anteil an seiner raschen Berühmtheit als Schriftsteller haben. Mit seinem Roman begibt er sich jetzt aufs Gelände der NS-Geschichte, um auch hier seine Erfolgsformel zur Anwendung zu bringen. „Glauben Sie mir, die Menschen sind nicht weiß oder schwarz, sie sind grau“, sagt da ein alter, abgezockter Anwalt zu seinem jungen Kollegen im typischen von Schirach-Ton, bei dem Banalitäten in lässigem Humphrey Bogart-Stil mit Zigarette im Mundwinkel vorgetragen werden. Dabei beweist das Romangeschehen am Ende das Gegenteil: Es ist eben kein Zufall, ob ein Mensch Täter oder Opfer wird. Jedenfalls nicht immer und überall.
Am Anfang steht ein brutaler Mord. Im Berliner Hotel Adlon wird ein alter Großindustrieller, der zur Führungsschicht der Republik gehört, mit vier Schüssen in den Hinterkopf hingerichtet, und weil dem Mörder das nicht genügt, tritt er Kopf und Gesicht des Opfers zu Brei, bis ihm der Absatz vom Schuh abbricht. Der Mörder heißt Collini. Seit über dreißig Jahren arbeitete der riesenhafte Italiener bei Mercedes-Benz, jetzt ist er im Ruhestand. Nach der Tat stellt er sich, gibt aber keine Auskunft über sein Motiv. Warum er so eisern schweigt, ist nicht ganz klar, vielleicht nur deshalb, damit eine Romanhandlung folgen und der junge, aufstrebende Anwalt Caspar Leinen sich in seinem ersten Strafprozess gleich richtig bewähren kann.
Auch wenn man sich für diesen Anwalt zunächst nicht sonderlich interessiert, wird erst einmal seine Kindheitsgeschichte ausgebreitet, mit Internat, erstem Kuss und Jungensfreundschaft mit einem Großbürgersohn, für den es ganz selbstverständlich ist, im Bademantel und Zigarre rauchend, von Dienstboten und schlafenden Hunden umgeben, vor dem offenen Kamin der väterlichen Villa zu sitzen. So könnte auch ein englischer Adelsroman klingen. Da es aber um Deutschland geht, leitet der Großvater, der zum väterlichen Freund wird, einen mächtigen Konzern.
Jetzt ist der nette Großvater das Mordopfer und, wie sich endlich, nach langem und auch etwas langweiligem Hin und Her herausstellt, ein ehemaliger SS-Mann, der für die Hinrichtung von Partisanen in Italien verantwortlich ist. Schirachs Anwalts-Alter Ego recherchiert also befangen und in eigener Sache, oder wie das in der immer etwas angeberischen Sprache des Romans heißt: „Er wusste, dass er heute seine Kindheit zerstören würde.“
„Der Fall Collini“ ist aus derartigen Sätzen zusammengefügt, die aus einem Gebrauchs-Katalog für Drehbuchschreiber zu stammen scheinen. Dabei handelt es sich ganz im Unterschied zu der zur Schau getragenen Coolness um mit Pathos aufgepumpte Hohlformeln. Da begreift der Anwalt, dass es nicht um Gesetze und Paragrafen, sondern „um etwas ganz anderes ging: den geschundenen Menschen“. Oder er sinniert: „Irgendwo musste der Schlüssel sein, der den Mord erklären und die Welt wieder ordnen würde.“ Andere Sätze wie „Es war zu kühl für die Jahreszeit“, sind direkt aus dem Wetterbericht übernommen. Peinlich wird es, wenn die Liebe ins Spiel kommt, denn selbstverständlich gibt es auch eine Liebesgeschichte zwischen dem Anwalt und der Enkelin des Opfers. Da kommt er dann nackt aus der Dusche und findet sie ganz überraschend im Hotelzimmer vor. Das geht dann so vor sich: „Irgendwann zog er den Reißverschluss ihres Kleides auf, streifte es von ihren Schultern und öffnete den BH.“ Ein paar Sätze weiter wird Vollzug gemeldet: „Er drang in sie ein.“ Das ist eine Sprache, mit der man eher noch das Abbiegen auf dem Verkehrsübungsplatz schildern könnte, als einen Augenblick der Leidenschaft. Ein Roman unterscheidet sich eben doch von einem juristischen Protokoll.
Spannend wird das Buch immer dann, wenn von Schirach sich auf die Darstellung des Procedere vor Gericht und auf die Feinheiten der Gesetzgebung konzentriert. Da kann man wirklich etwas lernen. Er zeigt, wie die Gesetzgebung der Bundesrepublik ausgerechnet im Jahr 1968, als die Studenten ihre Väter dazu bringen wollten, Rechenschaft abzulegen, so modifiziert wurde, dass Verbrechen, die zuvor als Mord eingestuft worden wären, nun nur noch als Totschlag zu bewerten waren und deshalb verjähren konnten. Verantwortlich für die unscheinbare, aber folgenreiche Ergänzung im „Einführungsgesetz zum Ordnungswidrigkeitengesetz“ war Eduard Dreher, im Dritten Reich ein berüchtigter Staatsanwalt am Sondergericht Innsbruck. Da schreibt von Schirach mit gehörigem Zorn auf Gesetzgeber, die sich von ehemaligen Nazis die Paragraphen diktieren ließen. Der Roman aber ist nicht mehr als eine Art Verpackung für diesen politischen Glutkern, der in einem Essay wohl besser untergebracht wäre. Die Handlung dehnt sich wie ein allzu dünner Teig. Das Bedürfnis des Anwalts, die juristischen Verfahrensweisen auch dem dümmsten Laien begreiflich zu machen, kommt dem Erzähler immer wieder in die Quere. Als Strafverteidiger vor Gericht ist er es gewohnt, auf Effekt zu erzählen. Das wird spätestens dann, wenn es um die Schilderung der Geißelerschießung geht, als literarische Haltung unangenehm und unangemessen. Auch seine Eitelkeit ist störend: Dass der junge Strafverteidiger wahnsinnig schlau und eloquent ist und ein cooler Hund dazu, das haben wir dann wirklich begriffen.
Doch nicht nur die handwerklichen Mängel fallen auf – auch in der zentralen Frage nach Schuld und Verantwortung, nach Recht und Gerechtigkeit, Rache und Genugtuung bleibt der Roman seltsam unentschieden. Juristisch, das macht er deutlich, ist das Problem nicht zu lösen: Die Geißelerschießung könnte unter bestimmten Umständen sogar rechtmäßig gewesen sein. Nicht das heutige Empfinden ist für die Beurteilung der Tat entscheidend, sondern das Völkerrecht während des Krieges. Die moralische Bewertung aber folgt anderen Kategorien. Doch um hier zu einer belastbaren Haltung zu gelangen, teilt der Roman viel zu wenig mit. Die Leiche des Ermordeten wird zwar auf dem Obduktionstisch nach allen Regeln der Kunst seziert. Genüsslich schwelgt der Autor in Details, trägt Schicht um Schicht die Haut und das Muskelgewebe ab und dringt entlang der Einschusskanäle ins Gehirn vor, und auch wenn seinem Helden dabei die Knie weich werden, zittert seine Schreibhand nicht. Doch im Körperinneren ist nichts zu finden, keine Antwort auf die Frage nach gut und böse und den Besonderheiten einer Biographie. So bleibt auch dieser Abschnitt bloßer Effekt.
Eine ähnliche in die Tiefe gehende Neugier hätte man sich auch in der Darstellung der Biographie des Großvaters gewünscht. Wie und warum wurde er zum SS-Mann? Seine damaligen Motive – und auf die käme es doch an – bleiben im Dunkeln, während die des Mörders Collini am Ende klar und verständlich sind. War er ein Nazi aus Überzeugung? Oder soll er als Beispiel für von Schirachs These dienen, dass es oft nur ein Zufall sei, ob ein Mensch zum Täter oder zum Opfer wird? Die Handlung legt nahe: Er ist beides. Ein Guter, der das Falsche tat. Doch um von Schirach in diesem Gedanken folgen zu können, hätte er mehr über diesen Mann verraten müssen, als es die Akten, das Prozessgeschehen und die kitschigen Kindheitserinnerungen hergeben. Damit hängt auch die Schlusspointe in der Luft, wenn die Enkelin mit „zitternden Lippen“ fragt: „Bin ich das alles auch?“ Das ist die Frage, die sich auch der Enkel Ferdinand von Schirach seit langem gestellt hat, wie er in seinem Essay verrät. Die Antwort des Romanhelden ist auch seine eigene: „Du bist, wer du bist“. Mehr als eine Tautologie hat er also nicht zu bieten. Alle Menschen sind grau, und Wahrheit ist eine Banalität. Mag sein, dass solche Botschaften tröstlich wirken.
Jörg Magenau
erschienen in Süddeutsche Zeitung
Ferdinand von Schirach: Der Fall Collini
Roman. Piper, München 2011, 196 Seiten, 16,99 Euro
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