Der Schriftsteller Eugen Ruge hat für seinen DDR-Roman den Deutschen Buchpreis 2011 gewonnen. „In Zeiten des abnehmenden Lichts“ sollte man lesen. Hier die Rezension von Jörg Magenau:
Die Menschen auf alten Fotos können nichts dafür, doch sie rücken auf werkwürdige Weise ins Lächerliche. Die Frisuren sind fragwürdig, die Brillen zu aufdringlich, von der Mode bleibt nur die Bemühtheit übrig, und selbst die Gesichter sehen irgendwie naiver aus, einfach deshalb, weil sie so sehr in ihrer Zeit feststecken und nichts von dem wissen, was auf sie zukommen wird. Der Lächerlichkeitseffekt ist unvermeidlich. Prominente aller Art haben ebenso darunter zu leiden wie die eigene Verwandtschaft und das eigene frühere Ich, dessen Peinlichkeitspotential sich erst im Rückblick so richtig offenbart. Bilder von Familienfesten sind gefährliche Abgründe.
Eugen Ruge legt nun mit „In Zeiten des abnehmenden Lichts“ den „Roman einer Familie“ vor, der diesem Effekt konsequent entgegensteuert und sich doch vor der unvermeidlichen Lächerlichkeit nicht fürchtet. Über vier Generationen hinweg, von 1952 bis zum Beginn des dritten Jahrtausends mit der noch ganz und gar unverstandenen Katastrophe des 11. September 2001, führt das Geschehen quer durch die Geschichte der DDR und weit darüber hinaus, nach Mexiko und nach Russland – immer entlang der roten Linie der sozialistischen Utopie, die, so oder so, Orientierung bietet. Der historische Weg führt aus der Illusion ins Leere, aus der Zukunftsgewissheit in die Ratlosigkeit, von der Anziehungskraft zur Fluchtbewegung. Das ist, hochgerechnet auf fünfzig Jahre, eine ernüchternde Bilanz. Doch Ruge nimmt es nicht tragisch, sondern mit Humor. Komik entsteht bei ihm nie auf Kosten der Figuren und schon gar nicht aufgrund einer billigen posthumen Überlegenheit des Erzählers. Sie ergibt sich aus der jeweiligen Situation. Der Familienroman im Dienst der Geschichtsschreibung schien als Genre in den letzten Jahren ein wenig überstrapaziert und ziemlich ausgereizt, da zeigt Ruge, wie viel mit dieser Form möglich ist.
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Im Mittelpunkt steht ein Familienfest: der 90. Geburtstag des Patriarchen Wilhelm am 1. Oktober 1989. Dieser Großvater kehrte 1952 mit seiner Frau Charlotte aus dem Exil in Mexiko in die DDR zurück, ein echter Proletarier, der es zu einer respektablen Funktionärslaufbahn brachte, und der nun, zum Geburtstag, mal wieder mit einem Orden ausgezeichnet wird. Sein Sohn Kurt floh vor der Naziherrschaft ins russische Exil, nach dem Hitler-Stalin-Pakt wurde er verhaftet, kam in ein Lager und wurde nach Sibirien verbannt. Dort heiratete er die Russin Irina, die Mutter des Erzählers, die sich später in der DDR immer ein wenig fremd fühlt und sich an ihrem russischen Akzent und am Alkohol wärmt.
Der in der Verbannung geborene Sohn Alexander ist die Figur, die in etwa dem Autor Eugen Ruge entspricht. Auch Ruge wurde 1954 in Soswa im Ural geboren. Sein Vater ist der Historiker Wolfgang Ruge, der umfangreiche Werke zur Geschichte der Arbeiterbewegung schrieb. Dessen auf Vorlesungen zurückgehende Lenin-Biografie hat Eugen Ruge kürzlich unter dem Titel „Lenin – Vorgänger Stalins“ aus dem Nachlass herausgegeben; Wolfgang Ruges Erinnerungen an die Jahre in der Sowjetunion sind bei Rowohlt für Januar 2012 angekündigt. Die umfangreichen Materialien, die der Vater hinterließ, Briefe und Tagebuchaufzeichnungen, sind auch eine Grundlage für die literarische Familienrecherche Eugen Ruges. Seine Romandokumentation folgt der Familienrealgeschichte, auch wenn nicht alle Daten korrekt übereinstimmen und manches erfunden sein mag, um die Wirklichkeit zu verdeutlichen.
Kurt, wie der Vater im Roman heißt, leidet im Jahr 2001 an einer massiven Demenz und kann eigentlich nur noch ein Wort sagen kann: „Ja“. Alexander, der ein eher gespanntes Verhältnis zu ihm hatte, erinnert sich an ihn als einen besessenen Arbeiter, der seine Zeit damit verbrachte, Texte in die Schreibmaschine zu hämmern, die nach der Wende, ergraut und bleischwer, zu Makulatur geworden sind. Mit dem Sozialismus ist auch das Projekt einer kritischen Revision obsolet geworden. Nun muss der Sohn den Vater versorgen und pflegen. Er hat kein Mitleid mit ihm, eher leise Verachtung, findet jedenfalls nichts dabei, ihn zu bestehlen: Mit dem Geld, das der Vater besinnungslos aus den Automaten zieht und im Tresor im Arbeitszimmer bunkert und sofort wieder vergisst, reist er nach Mexiko, auf den Spuren der Großeltern, als könne er so die Familiengeschichte irgendwie doch noch abrunden und das Ende in den Anfang münden lassen.
Der eigentliche Clou und handwerkliche Kniff des Romans ist jedoch das Geburtstagsfest, das immer wieder aus wechselnden Perspektiven erzählt wird, mal aus der Sicht von Kurt und Irina, die ausgerechnet an diesem Morgen die Nachricht erhalten, dass Alexander in den Westen gegangen ist – er ruft aus Gießen an. Mal aus der Sicht der russischen Großmutter, die fast schon vergessen in der Dachkammer wohnt. Mal aus der Sicht von Alexanders geschiedener Frau und Mutter seines Sohnes, der mit den sozialistischen Restritualen nun wirklich gar nichts mehr anfangen kann und sich mehr für den Leguan im Bücherregal interessiert als für den reptilienhaften Urgroßvater, der im Ohrensessel versinkt und vergeblich in seinem Gedächtnis herumkramt, wer denn nun eigentlich wer ist.
Das Gelingen des Romans hängt davon ab, all diese sehr unterschiedlichen Figuren lebendig werden zu lassen und ihnen zu ihrem Recht zu verhelfen und ihnen – allen historischen Lächerlichkeiten zum Trotz – ihre Würde zu belassen. Der auktoriale Erzähler hält immer ein wenig Distanz, wechselt aber mit den Näheverhältnissen die Sichtfelder und die Wahrheiten. Das sind Übungen der Einfühlungskraft, Annäherungen über innerfamiliäre Gräben hinweg. Die liebevolle Genauigkeit der Figurenzeichnung erstaunt umso mehr, als der mutmaßliche Erzähler, Alexander, beim Fest selbst gar nicht anwesend ist. Die Kunst des Autors besteht darin, sich in die vertrauten Fremden, die fremden Vertrauten, die die Familie darstellen, hineinzuversetzen und ihnen ihre Sprache zu geben, egal ob es sich um Frauen oder Männer, um Großväter oder Urenkel handelt. An keiner Stelle wirkt der Text aufgesetzt oder unecht. Dass Ruge nach 1989 hauptsächlich fürs Theater gearbeitet hat, merkt man seiner Prosa und den leichthändigen Dialoge an.
Trotz der Fülle der Geschichten und der Menge des historischen Materials geht Ruge nicht im Stoff unter. Er transportiert nicht nur Inhalt, sondern überzeugt durch die kompakte Form und die Eleganz der Sprache. Die Geschichten vom Exil, von Verfolgung und Unterdrückung und neuer Gewalt, vom Niedergang der Utopie, von Korruption, Kompromissen und Gehorsam, von Lebenslügen, Überzeugungen und Selbstgerechtigkeiten, die das 20. Jahrhundert ausmachen, sind ja nicht neu, sondern schon oft erzählt; Jenny Erpenbeck hat in ihrem Roman „Heimsuchung“ vor ein paar Jahren ähnliche DDR-Familienverhältnisse bearbeitet. Überzeugend aber ist die vielfache perspektivische Brechung, die durch die lebendige Figurenvielfalt entsteht. „In Zeiten des abnehmenden Lichts“ wirkt gar nicht so sehr als Roman über die DDR und ihren Niedergang, denn als Panorama von Lebensgeschichten, die in diesem historischen Rahmen stattfinden, weil sich nun mal jedes Leben zu einer bestimmten Zeit und an einem bestimmten Ort ereignet – mit allen Schwierigkeiten, die sich daraus ergeben. Wenn Literatur, die ihren Namen verdient, ihre Bedeutung dadurch bekommt, dass sie Perspektiven erweitert, dann ist dieser Roman große Literatur.
Der Roman endet im Jahr 2001. Außerhalb bleibt zwangsläufig seine Entstehungszeit und der Zeitpunkt der Rezeption, zehn Jahre später. Von hier aus betrachtet lässt sich erkennen, dass der politische Gehalt der Geschichte inzwischen noch tiefer versickert ist. Das Licht, das die sozialistische Utopie ausstrahlte, ist kaum noch erkennbar. Dass Generationen um den vorgeblichen Kampf um eine bessere Welt in diesem Licht kreisten, erscheint nur noch als eine merkwürdige Skurrilität. Was sie bewegte, der Streitwert ihrer Ideen, ist verblasst. Ist es ein Gewinn, dass man diese Menschen jetzt so nackt sieht, wie Ruge sie zeigt? Auch die ideologischen Gewänder sind nur Kostüme, die im Blick der späteren Betrachter wie Verkleidungen wirken, auf die es gar nicht ankommt. Auch Ideologien wirken im Rückblick wie alle Moden ein wenig lächerlich. Doch bei Eugen Ruge kommt es darauf eben gar nicht mehr an. Seine Figuren haben Bestand, jenseits der Zeiten. Und vielleicht erzählt er gerade deshalb mehr von der DDR und den Nöten des Lebens, als all die Bücher, die sich an den Ideologien und an der harten Wirklichkeit abarbeiten. Die Zeit ist reif für diesen unverstellten, humorvollen und einfühlsamen Blick.
Jörg Magenau
Eugen Ruge: In Zeiten des abnehmenden Lichts
Roman. Rowohlt, Reinbek 2011
430 Seiten, 19,95 Euro
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