Mag sein, dass es im Jahr 2030 „TM5-Player“ geben wird, „Hype Pads“ und „Bing-Bings“. Zukunft ist ja zumeist nichts anders als die Verlängerung des Bekannten und der in der Gegenwart angelegten Möglichkeiten, jedenfalls in der Literatur. Zukunftsromane sind keine Prophezeiungen, Autoren keine Propheten. Sie benutzen die Zukunft bloß als Spiegel- und Spielfläche für ihre Fiktionen. Weil die Zukunft noch so leer und unbeschrieben ist, lassen sich in ihr die schönsten Gebäude der Phantasie errichten. Das geht einfacher, als das in Vergangenheit oder Gegenwart mit ihrer fester gefügten Realität möglich wäre.

Jochen Schimmangs Roman „Neue Mitte“ setzt im Jahr 2029 ein. Nach einer neunjährigen Militärjunta herrscht in Deutschland seit vier Jahren eine Übergangsregierung. Die gesellschaftlichen Verhältnisse sind fragil, auch der gestürzte General mit seinen verbliebenen Anhängern haust noch irgendwo in alten U-Bahn-Schächten und holt womöglich bald zum Gegenschlag aus. Mitten im alten Zentrum der Macht, in den Ruinen des Berliner Regierungsviertels, hat sich eine kleine Kolonie gebildet. Die Bewohner der Zwischenzeit machen sich, wie das in Berlin immer schon war, ungenutzte Brachen und unklare Besitzverhältnisse zu nutze, um sich ihre eigene Welt nach ihren Vorstellungen aufzubauen. Künstler und Anarchisten leben hier, ein alter Gärtner, ein Geigenbauer, der Betreiber des Restaurants „le plaisir du texte“, Handwerker und eine schöne Computerspezialistin. Im Mittelpunkt aber steht der Aufbau einer Bibliothek, für die auch der Ich-Erzähler Ulrich Anders nach Berlin kommt.

Die Bibliothek ist in vielfacher Hinsicht Zentrum des Romans – nicht nur, weil hier die Fäden der Handlung zusammenlaufen. Sie ist, wie jede Bibliothek, ein Ort der Geschichte, weist also auch in einem Zukunftsroman zurück in eine zukünftige Vergangenheit. Und sie ist ein Ort der Literatur, an dem die Welt aus dem Geist der Bücher entworfen wird. Genau das tut Jochen Schimmang mit Lust und Laune. Sein Ich-Erzähler liest nicht ganz zufällig ein Buch mit dem Titel „Der Tod des Jorge von Burgos“ – bei dem es sich, wie man wissen muss, um den alten Hüter der Kloster-Bibliothek aus Umberto Ecos „Der Name der Rose“ handelt. In Burgos wiederum verbirgt sich Jorge Luis Borges, der Großmeister des labyrinthischen Erzählens und der Erfinder der unendlichen Bibliothek als Gleichnis für die Unendlichkeit des Universums. Ein anderes Buch, das dem Ich-Erzähler wichtig wird, ist ein alter Bestseller mit dem Titel „Das Sonja-Komplott“ von einem gewissen Gregor Korff, der wiederum, wie Schimmang-Leser wissen, die Hauptfigur in dessen vorigem Roman gewesen ist, ein Westdeutscher mit K-Gruppen-Vergangenheit, der in der Zeit der Wende als Berater eines CDU-Politikers arbeitete und entdecken musste, dass seine ehemalige Freundin Sonja eine Agentin der Stasi war. Jetzt, in „Neue Mitte“ vermutet der Ich-Erzähler, dass dieser Korff, dessen Buch er liest, sein leiblicher Vater sein könnte.

„Neue Mitte“ ist also ganz und gar Literatur und aus Literatur gemacht. Es ist ein literarisches Spiel aus Lust am Text, ein Spiegelkabinett der Querverweise, in dem der Autor vorführt, wie aus Spiegelbildern Figuren und aus Fiktionen Realitäten werden können. Man nennt so etwas gerne „postmodern“. Das Erzählen der Bibliothek birgt jedoch die Gefahr, dass es selbst gelegentlich ins Katalogisieren verfällt. Die Versuchung, eine Welt aus Listen fiktiver Bücher aufzubauen, ist groß, und auch die Figuren des Romans werden allzu oft nur wie Karteikarten behandelt und rasch wieder weggeblättert. Gebrochen und in die Zukunft gespiegelt lässt Schimmang im Schicksal der Bewohner der „Neuen Mitte“ die eigene Geschichte aufleuchten – die Utopien und vergeblichen Hoffnungen der 68er-Generation, mit denen Schimmang sich schon in seinem Debütroman „Schöner Vogel Phoenix“ aus dem Jahr 1979 beschäftigt hat. So ganz und gar westdeutsch wie der lange Zeit in Köln und heute in Oldenburg lebende Schimmang ist auch dieser Roman. Von der DDR und der Ost-West-Teilung Deutschlands ist im Jahr 2029 jedenfalls keine Spur mehr zu entdecken – obwohl er doch genau auf der einstigen Nahtstelle zwischen Ost und West angesiedelt ist.

Umso ausführlicher befasst sich damit der Debütroman „Plan D“ von Simon Urban, der 1975 in Hagen geboren wurde, unter anderem am Leipziger Literaturinstitut studierte und heute in einer Hamburger Werbeagentur arbeitet. Auch „Plan D“ ist ein Zukunftsroman, allerdings wird diese Zukunft, elf Tage im Oktober 2011, schon bald in der Vergangenheit liegen. Urban will keine zukünftige Welt entwerfen, sondern eher so etwas wie eine Alternative der Vergangenheit, eine nicht wirklich gewordene Möglichkeit der historischen Entwicklung. Wie würde die Gegenwart aussehen, wenn Deutschland noch geteilt wäre, wenn es statt der Wiedervereinigung eine „Wiederbelebung“ der DDR gegeben hätte? Ob dort dann tatsächlich Egon Krenz herrschen würde und im Westen, als ob es keinen anderen Gäbe, Oskar Lafontaine, darüber lässt sich streiten. Aber das sind nur Randnotizen eines durchaus spannenden Politthrillers, in dem ein Kommissar der Volkspolizei gemeinsam mit einem westdeutschen Kollegen vom BND in einem mysteriösen Mordfall ermittelt. Ein alter Mann ist an einer Gas-Pipeline am Müggelsee erhängt worden. Alles deutet auf die Stasi als Täter hin. Der „Spiegel“ bringt die Sache groß als Titelgeschichte, und damit stehen die deutsch-deutschen Konsultationen, in denen es um Energiefragen und damit indirekt auch um die Existenz der notorisch zahlungsunfähigen DDR geht, auf dem Spiel.

Der Roman bleibt immer dicht am Geschehen und an seinen Hauptfiguren, besonders an dem liebeskranken, vom Schmerz der Trennung und von sexuellen Zwangsvorstellungen gebeutelten Kommissar Wegener. Mit den Tiefen seiner erfundenen DDR-Gesellschaft muss Urban sich deshalb nicht befassen. Er begnügt sich damit, eine vergnügliche Oberfläche zu erfinden. Der Trabi-Nachfolger heißt nach einem Marstrabanten „Phobos“, das Navigationsgerät Ost „Navodobro“, im Kino laufen „Ostblockbuster“ und die Brause heißt „Bionier“. Die DDR ist immerhin so attraktiv, dass Hartz IV-Empfänger aus dem Westen versuchen, dorthin zu gelangen, wo es ein Recht auf Arbeit und Einkommen gibt.

Solche kleine Spitzen, die auf unsere Gegenwart zielen, sind leider selten. Die DDR – das beweist dieses erzählerische Experiment – ist so tot, dass ihr keine Zukunft mehr zu entlocken ist. „Plan D“ bietet deshalb nur eine notdürftig umfrisierte Vergangenheit, und auch die Pointe, bei der es auf eine neue Deutsche Einheit und einen „dritten Weg“ zwischen Kapitalismus und Sozialismus hinausläuft, ist eine Idee von gestern.

Dass auch die Geschichte der Nachwendezeit im wiedervereinigten Deutschland keine lohnenden historischen Spuren hinterlassen zu haben scheint, ergibt sich aus Schimmangs „Neuer Mitte“, die doch vor allem an die Ideale der Post-68er Zeit erinnert. Während Simon Urban die Phase der deutschen Teilung konserviert, lässt Schimmang jede Erinnerung daran hinter der Zäsur einer Militärjunta verschwinden. So haben wir den merkwürdigen Fall zweier fiktiver Berlinromane, die zwanzig Jahre nach dem Fall der Mauer erscheinen, dieses Ereignis jedoch, gewissermaßen im Zangengriff aus Vergangenheit und Zukunft, auslöschen. Auch der Blick nach vorn schützt nicht unbedingt vor Nostalgie; auch Zukunftsromane bieten keine Gewähr dafür, in der Geschichte etwas anderes zu sehen als bloß die ewige Wiederkehr des Bekannten. Das macht sie, allen Putschversuchen, Morden und Vergeblichkeiten zum Trotz, zu einer tröstlichen und vergleichsweise harmlosen Lektüre. Das Mordopfer in Simon Urbans „Plan D“ lebte übrigens, wie die Ermittler bald herausfinden, in einer riesigen Ost-Berliner Altbauwohnung voller Bücher. Vielleicht gehören sie zwanzig Jahre später ja zum Bestand in Schimmangs Bibliothek der „Neuen Mitte“. Die Zukunft, solange sie von Schriftstellern entworfen wird, ist voller Bücher. Auch darum muss man sich also keine Sorgen machen.

Jörg Magenau

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