Es ist wohl der hartnäckigste Fall eines „Writers Block“, den man sich denken kann. 60 Jahre dauerte es, bis nach Henry Roths Debütroman „Nenn es Schlaf“ aus dem Jahr 1934 Anfang der 1990er Jahre der erste Teil seiner vierbändigen Autobiographie erschien. Roth hatte unterdessen als Lehrer gearbeitet, als Waldarbeiter, als Werkzeugmacher und Wärter einer Nervenklinik, dabei seine Identität als Schriftsteller jedoch nie aufgegeben. Es nagte an ihm, gescheitert zu sein. Als „Nenn es Schlaf“ – der Roman über die Kindheit in einer galizisch-jiddischen Einwandererfamilie in der Lower Eastside – 1964 wieder erschien, wurde daraus ein Bestseller. Das mag ihm neuen Auftrieb gegeben haben. Doch erst in hohem Alter überwand er seine Hemmung und versuchte nun, das Versäumte in einem manischen Schreibzwang aufzuholen, bis er 1995 starb. Im letzten Lebensjahrzehnt schrieb er tausende von Manuskriptseiten voll.

Auch der Roman „Ein Amerikaner“, jetzt aus dem Nachlass erschienen, wurde nicht fertig. Ein Redakteur des „New Yorker“ hat das, was nun als Buch vorliegt, aus einem 1500 Seiten umfassenden Manuskriptstapel herausdestilliert. Roth bietet puren Stoff, er schweift gerne ab, erzählt jedes Detail und verliert dabei das Ganze und die Form aus dem Blick. Das ist sein Problem und wohl auch einer der Gründe seiner Blockade. Roths Alter Ego Ira Stigman, der wie Roth an seinem zweiten Roman scheitert, erklärt einer Redakteurin, die von ihm eine Kurzgeschichte haben will, er könne sich keinem Schema unterwerfen. Er habe aber ein Gespür für das Leben. – Genau so ist es.

„Ein Amerikaner“ spielt in den Jahren 1938/39 und knüpft an Roths Autobiographie an. Er verlässt die Frau, die er dort kennenlernte und die ihn bei seinem ersten Buch auch finanziell unterstützte. Er will endlich unabhängig werden, um die Selbstachtung zu bekommen, die er zum Schreiben braucht. Zugleich lernt er „M.“ kennen, die Liebe seines Lebens. Doch bevor er zu ihr zieht und sie heiratet, bricht er zusammen mit einem kommunistischen Freund von New York nach Los Angeles auf. In einem klapprigen alten Wagen reisen sie quer durch die USA, doch kaum dort, will er auch schon wieder zurück zur Geliebten. Weil er kein Geld hat, klettert er auf einen Güterzug und lernt dort bei einer Nacht im Gefrierwagen allerlei abenteuerliche Gestalten kennen.

Roth verknüpft viele der Elemente, die Amerika ausmachten und ausmachen: Die Road-Novel, die Einwanderergeschichte, das Außenseitertum, die Sehnsucht nach künstlerischem Erfolg und, natürlich, die Liebe. Der politische Zeitrahmen am Vorabend des 2. Weltkriegs spielt nur eine überraschend kleine Rolle. Europa ist weit weg, auch wenn Roths Vorfahren von dort gekommen sind. Er ist viel zu sehr mit sich selbst und seinen materiellen und künstlerischen Problemen beschäftigt, um den drohenden Krieg wahrzunehmen. Sein Judentum interessiert ihn nicht, denn er will raus aus den engen familiären Verhältnissen. Doch unterwegs erlebt er den aggressiven amerikanischen Antisemitismus, begegnet amerikanischen Nazis und bedrohlichen Südstaatenrassisten. Der Hass auf die Juden war kein rein europäisches Phänomen.

Obwohl das Buch so viele Jahrzehnte später entstand, merkt man ihm die Anstrengung des Erinnerns nicht an. Es ist, als habe Roth diesen Stoff in sich aufbewahrt für den Moment, in dem er endlich würde schreiben können. Dass das aber auch Anstrengung kostete, ist der Rahmenhandlung zu entnehmen, in der er als alter Mann nach dem Tod seiner Frau in einem Pflegeheim in Albuquerque lebt und mit seinen gichtigen Händen nur noch mit Mühe die Schreibmaschine bedienen kann. Wenn es am Ende heißt: „Die wenigen Erinnerungsreste, die übrig geblieben waren, mussten genügen“, ist das maßlos untertrieben, wie häufig bei Roth, dem es an Selbstvertrauen mangelte. „Ein Amerikaner“ ist ein lebenspralles, durchaus tragisches, humorvolles Buch, und es ist eine kleine Sensation, dass es überhaupt existiert. Dass die Auswahl und Anordnung der Textpassagen nicht von Roth selbst stammt, spielt da keine Rolle. Vermutlich hätte er alleine es sowieso nie fertig bekommen.

Jörg Magenau

Henry Roth: Ein Amerikaner
Roman
Aus dem Amerikanischen von Heide Sommer
Hoffmann & Campe, Hamburg 2011
384 Seiten, 23,- Euro

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