Muss man Knut Hamsun heute noch lesen? Zivilisationskritik vom Beginn des 20. Jahrhunderts aus dem Norden Norwegens? Bietet Hamsuns Hinwendung zur Natur womöglich Ansatzpunkte für eine moderne ökologische Lesart oder ist seine Feier des Bauerntums und des Landlebens einfach nur reaktionär? Die große Hamsun-Biographie von Ingar Sletten Kolloen gibt darauf keine Antwort. Hamsuns Größe und Bedeutung als Romancier wird hier einfach vorausgesetzt und durch viele bewundernde Zitate seiner Zeitgenossen belegt. Sletten Kolloen rühmt sich im Nachwort, 2000 Quellen durchforstet und 20.000 Informationen verarbeitet zu haben. Das ist viel, vielleicht mehr als ein Buch verkraften kann, auch wenn der Autor sein in Norwegen bereits 2003 erschienenes Werk für die Übersetzungen um die Hälfte gekürzt hat. Das Bild einer Person und die Bedeutung von Literatur ergibt sich nicht zwangsläufig aus der Summe von Fakten.
Drei große Themen prägen diese Biographie. Da ist zunächst der erstaunliche Aufstieg des armen, 1859 geborenen Schneidersohnes aus der Provinz, der nur 252 Tage die Schule besuchte, dann aber zum berühmtesten Schriftsteller seines Landes und zum Nobelpreisträger des Jahres 1920 wurde. Wie geht das? Woher kommen Sprachkraft und Literatursehnsucht eines Jungen, der vom Onkel verprügelt wird, der auf dem Acker arbeiten und eine Schusterlehre absolvieren muss, der Wanderjahre als Straßenbauarbeiter in den USA absolviert und der plötzlich schreiben kann wie keiner vor ihm? Sletten Kolloen zeichnet diesen Weg nach, ohne das Rätsel lösen zu können, will man sich nicht mit der Antwort zufrieden geben, dass ein Genie eben ein Genie ist und dass ein gewisses Talent zu Skandalen – etwa die provokative Herabwürdigung Ibsens und anderer Größen – auch dazu gehört. Sletten Kolloen räumt den einzelnen Romanen Hamsuns (und das sind viele!) breiten Raum ein, gibt Handlungen wieder und zählt Figuren auf, ohne damit aber Einprägsamkeit zu erreichen oder deutlich zu machen, worin die literarische Besonderheit Hamsuns lag. Das macht die Lektüre der Biographie streckenweise zäh. Ihre Stärken liegen jedoch anderswo.
Erkennbar wird ein Mensch, der alles dem eigenen Schreiben opferte, und der für seine Nächsten ziemlich unerträglich war. Das Elend der ersten und der zweiten Ehe, die Verstoßung der Tochter (weil die den falschen, nämlich britischen Mann liebte), seine wortkarge Unnahbarkeit und innere Zerrissenheit zwischen Schriftstellerei und Sehnsucht nach bäuerlicher Lebensweise, verdichten sich zu einem tragischen Charakterbild, das sich an Hamsuns eigenem Grundsatz, dass ein Mensch aus nichts als Widersprüchen besteht, orientiert. Ob man wirklich wissen muss, ab wann Hamsun „Probleme beim Wasserlassen“ hatte, ist eine andere Frage.
Richtig spannend wird das Buch im letzten Teil, wo es um Hamsuns Bekenntnis zu Nazideutschland und seine abstruse Hitlerverehrung geht. Noch am 8. Mai 1945 publizierte er einen tieftraurigen und verehrenden Nachruf auf Hitler. Hamsun war einer der letzten Führer-Getreuen der Welt. Der alte Dichter, fast taub und blind, wurde psychiatrisiert, um sein Werk gegen ihn zu retten, doch er bestand darauf, auch politisch voll zurechnungsfähig zu sein und sich vor Gericht rechtfertigen zu dürfen. So wurde er wegen Landesverrats verurteilt. Für Norwegen ist er bis heute ein peinliches Kapitel der Kollaboration. Sletten Kolloen hatte Einblick in Akten des Psychiaters und in Gerichtsprotokolle genommen und erzählt die Ereignisse dicht und spannend nach. Doch auch hier bleiben Fragen offen, etwa die nach dem Zusammenhang zwischen Hamsuns bäuerlicher Literatur und seiner Naziverfallenheit. Sletten Kolloen gebührt jedoch der Verdienst, eine in Norwegen bis heute unter dem Gefühl der Peinlichkeit begrabene Figur in den Fokus der Aufmerksamkeit zurückgeholt zu haben. Ob er ein heute noch lesbarer Autor ist, das kann nur die Lektüre seiner Romane beantworten.
Jörg Magenau
Ingar Sletten Kolloen: Knut Hamsun. Schwärmer und Eroberer.
Aus dem Norwegischen von Gabriele Haefs.
Landt Verlag, Berlin 2011, 492 Seiten, 29,90 Euro
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