Vergnüglich, sympathisch, wild und unterhaltsam
Die Disziplin der Kollegenschelte ist in der literarischen Zunft mit einem strengen Tabu belegt. Dabei machen das alle Autoren, und zwar nicht zu knapp, denn außer ihnen selbst taugt doch eigentlich keiner was, nur hat das leider noch niemand bemerkt. Allerdings geschieht das selten öffentlich, weil es mit einem hohen Risiko, mit Neidunterstellung und Verbitterungsverdacht verbunden ist. Wer als Schriftsteller über andere Schriftsteller herzieht, der muss es ja wohl nötig haben. Dabei liest und hört man dergleichen doch immer wieder gern.
Matthias Zschokke hat dieses Tabu nun gründlich gebrochen. Der 1954 in der Schweiz geborene Autor, der seit 1980 in Berlin lebt und sich doch eigentlich eher für die leiseren Töne zuständig fühlt, legt mit „Lieber Niels“ ein Werk vor, in dem er auf alle Rücksichtnahme und Vorsicht verzichtet. „Unbedingt mehr verwildern in allem, was ich tue!“, lautet da eine seiner Lebens- und Schreib-Maximen, und dass er es ernst damit meint, deutet bereits der Umfang dieses alle Grenzen sprengenden Buches von bald 800 Seiten an. Es handelt sich um Mails an den Kölner Freund Niels Höpfner aus den Jahren 2002 bis 2009. Man kann sie als eine Art Tagebuch lesen, das allerdings an ein Gegenüber adressiert ist und dadurch einen offeneren, dialogischeren Charakter gewinnt.
Von Briefen unterscheiden sie sich durch die höhere Geschwindigkeit und Unkontrolliertheit; denn manches, was man im Brief an akuter Stimmung nicht stehen gelassen hätte, überdauert in einer Mail, die ja durch die nächste sofort relativiert werden kann. Dass die Mails – im Unterschied etwa zu einem Blog – niemals zur Veröffentlichung gedacht gewesen seien, versichert der als eine Art Herausgeber fungierende Niels Höpfner, der sein Dasein ebenfalls als Autor, Publizist, Kritiker und so weiter fristet. Er ist für Zschokke etwa das, was im letzen Jahrhundert der vornehme F.W. Oelze für den Briefschreiber Gottfried Benn gewesen ist: ein verehrender, manchmal Einspruch erhebender Gesprächspartner in geziemender Ferne. Unter dem Titel „Ein sanfter Rebell“ hat er eine umfangreiche Homepage über Zschokke erstellt, von der in dem Mailkonvolut immer wieder in ergriffenem, dankbarstem Ton die Rede ist. Auch Peinlichkeiten werden nicht wegzensiert.
Zschokkes Mails (die von Höpfner fehlen) wurden leicht gekürzt und überarbeitet, bleiben aber ein unverfälschtes Dokument spontaner und alltäglicher Lebensäußerungen eines Schriftstellers, der mit sich, den anderen und dem Literaturbetrieb zu kämpfen hat. Seine Einschätzungen muss man nicht unbedingt immer teilen, um Freude an ihnen zu haben. Es geht dabei ja nicht um Gerechtigkeit. Doch oft trifft Zschokke ins Schwarze. Sigmund Freud bezeichnet er als Einfaltspinsel, Sekundärdenker, Langweiler, mindestens so überschätzt wie Goethe. Peter Weiss: grottenschlecht, ein humorloser Kursleiter für Marxismus in der Volkshochschule Lübeck. Christa Wolf: „Als ich einmal mit ihr zusammen eingeladen war, las ich vorher alle Bücher von ihr, weil ich dachte, das gehöre sich so – und starrte sie daraufhin den ganzen Abend wütend an, weil ich die Bücher so grauenvoll gefunden habe.“ Robert Gernhardt: nicht schlecht, aber immer ein klein bisschen ranzig. Günter Kunert: „mag ich nicht (auch nicht – ich mag ja fast keinen).“ Auch die Gegenwartsgarde kommt nicht besser weg: Felicitas Hoppe: „Fräuleinliteratur“. Peter Stamm: „argloser Stimmenimitator“. Botho Strauß: Pose, Gespreiztheit. Und Brigitte Kronauer: „Nein, Mittelmaß ist das nicht, aber Rainer-Virginia Proust, eine Mischung aus Mayröcker und Thomas Mann, mit einer Prise Joyce, alles auf dem neuesten Stand der germanistischen Forschung.“
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„Unbedingt mehr verwildern in allem, was ich tue!“
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So viel „mag ich nicht“ wäre ziemlich unerträglich, wenn man es von einem Menschen wie, sagen wir, Thomas Mann zur Kenntnis nehmen müsste, der von der hohen Kanzel der Selbstgerechtigkeit herab doziert. Zschokke jedoch gehört in die andere Autorenlinie, die sich von Robert Walser ableitet und die eigene Null- und Nichtigkeit durchschaut hat. „Ich habe nichts zu sagen“ beteuert Zschokke immer wieder, „mir fällt nichts mehr ein“, ja mehr noch: „Ich glaube, die wenigsten haben etwas zu sagen. Und das auszuhalten und zuzugeben, dieses Nichts-zu-Sagen-Haben, kommt mir mal wieder als meine Hauptaufgabe vor.“ Es ist demnach leicht nachzuvollziehen, dass Melvilles „Bartleby“ zu Zschokkes literarischen Lieblingshelden gehört, ein Mann, der dem Gesellschaftstreiben und allen Arbeitsanforderungen mit dem schlichten Satz „Lieber nicht!“ zu entkommen sucht. Oh ja, Bücher und Autoren, die Zschokke gefallen, gibt es auch. Wilhelm Genazino gehört dazu, Andrzej Stasiuk, vor allem aber Peter Handke und eben Robert Walser.
Zschokkes literarische Präferenzen führen weg vom Inhalt, von Handlung, vom Gefälligen, leicht Konsumierbaren. „Aufregende Sätze“ will er stattdessen lesen und schreiben, Texte, in denen einer etwas von sich preisgibt. Haltung und Stil also, statt Handwerk und Standardware. Mit der Gattung „Roman“ hat er folglich seine Schwierigkeiten und überhaupt mit allem, was an den Markt und die unvermeidliche Produkt-Form von Literatur erinnert. Trotzdem hofft er von Buch zu Buch (im Zeitraum, um den es hier geht, sind das vor allem der sogenannte Roman „Maurice mit Huhn“ und der Reportagenband „Auf Reisen“) auf den großen Durchbruch, auf Geld und Berühmtheit. Dabei würde er sich sehr gerne schon den Lesungen und Auftritten, die er als Autor zu absolvieren hat, mit einem „Lieber nicht!“ entziehen und schätzt seine Lage realistisch ein: „Ich fürchte, was mit mir bislang passiert (ein Buch kommt in 3.000 Exemplaren auf den Markt, keine Reklame, nichts; ein paar werden verkauft, der Rest bleibt liegen), ist genau das, was mit mir möglich ist.“
Schuld daran ist naturgemäß vor allem der Verleger Egon Ammann, der sich noch nicht einmal schämt, vor Zschokke von seinem Erfolgsautor, dem hochgradig verkitschten Eric-Emanuel Schmitt zu schwärmen. Dessen Manuskripte liest er schneller und begeisterter als die des widerspenstigen Zschokke, denn was den Verleger nun mal primär begeistert, ist die potentielle Auflage. Andererseits versteht es Ammann, in Zschokke immer wieder neue Hoffnung zu entfachen, ihm zu schmeicheln, ihn zu loben und zu umgarnen, wenn der Autor wieder einmal mit dem Gedanken spielte, den Verlag zu wechseln. So geht das in stetem Wechsel zwischen Enttäuschung, Vorwürfen und Verbundenheit durch die Jahre – fast so, wie in der paradigmatischen Autorenbeziehung zwischen Siegfried Unseld und Thomas Bernhard, nur dass das Geld für Zschokke keine so überragende Rolle spielt und sein Furor des Hassens weniger ausgeprägt ist. Er möchte eigentlich nur so viel verdienen, um die Miete im Wedding bezahlen zu können, ohne von Almosen leben zu müssen. Und für gute Restaurants soll es reichen. Der Verleger kommt nicht gut weg, erstens deshalb, weil er zu wenig Zschokke verkauft, zweitens und vor allem aber deshalb, weil er immer nur auf den Markt schielt und die Literatur in Gestalt des sensiblen Autors verrät. „Lieber Niels“ hätte demnach wohl kaum im Ammann Verlag erscheinen können. Dessen Ende vor gut einem Jahr und der folgende Wechsel Zschokkes zu Wallstein ist also eine Voraussetzung dieser Publikation.
Zschokke erlaubt einen ungeschönten Blick in Psyche, Lebensweise und die soziale Randlage eines Literaturmenschen, eine Randlage, die er zugleich als ihm angemessene Stellung befürwortet. Dort, am Rand, ist er als Flaneur mit dem Fahrrad unterwegs, fährt während der WM an der Fanmeile vorbei, genießt die aufgewühlte Stimmung in der Stadt, bleibt aber stets der Einzelgänger, der an Silvester um 22 Uhr zu Bett geht und an seinem 50. Geburtstag den ganzen Tag herumspaziert, um nur ja keine Glückwünsche entgegen nehmen zu müssen. Weil es zu mühsam geworden ist, wäscht er sich nur noch einmal in der Woche und schränkt seine Sozialkontakte weiter ein. Selbst das Zähneputzen hat sich irgendwann in eine unangemessene Anstrengung verwandelt. Das lässt sich nachempfinden. Bleibt also nur noch Niels und die Mail als Sozialform des Rückzugs. Das Verwildern, das Zschokke anstrebt und auch umsetzt, spiegelt zugleich den Prozess des Älterwerdens. Die Zähne brauchen neue Füllungen, der Kopfschmerz nach abendlichen Trinkereien wird immer schlimmer, die pure Existieren ist eine ermüdende Herausforderung. Und doch trotzt Zschokke Tag für Tag der Zeit und der Vergänglichkeit neue Texte ab, auch wenn es nur eine Mail ist. „Lieber Niels“ ist bei aller Grundtraurigkeit des Daseins vergnüglich, bei aller schlechten Laune sympathisch und bei aller Marktskepsis wild und unterhaltsam, also genau das, was Literatur ausmacht.
Text: Jörg Magenau
Matthias Zschokke: Lieber Niels
Wallstein Verlag, Göttingen 2011, 768 Seiten, 29,90 Euro
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