„Und dann geht man und schreitet die Jahre ab.“
Damals. Seinerzeit. Genauer gesagt: Die seinerzeitige Gegenwart. Das ist die Zeit, in der sich Peter Kurzeck bewegt, die er durchstreift, durchwandert, ausmisst, Meter für Meter: „Erst nur die wechselnden Jahreszeiten. Und dann geht man und schreitet die Jahre ab.“ Diese Zeit verläuft nicht linear. Sie verdickt sich, staut sich, und dann rast sie dahin. „Wieder Herbst“, heißt deshalb der erste Satz im neuen Roman „Vorabend“, nachdem frühere Romane „Kein Frühling“ oder „Oktober und wer wir selbst sind“ hießen. Doch die Jahreszeiten wiederholen sich zu oft und zu rasch, um Orientierung zu bieten. Kann es sein, dass zwischen Karfreitag und Gründonnerstag ein Sommer lag? Schon vorbei? Die Zeit zerrt und zieht und ruckt, gelegentlich summt sie wie eine Heizung im Winter, dann fängt sie zu gehen und später sogar „zu fahren an“, als wäre sie ein Auto und wir stiegen ein. Die Welt ist in Bewegung. Doch wo fährt sie hin, die Zeit?
Peter Kurzeck erzählt, ohne damit je wieder aufzuhören, weil, wie er sagt, beim Erzählen „immer Gegenwart ist“. Im Erzählen rettet er sich und die Dinge vor dem unaufhaltsamen Verschwinden in der Vergangenheit. Er erzählt, damit nichts verloren geht. Gegenwart ist bei ihm „nicht einfach bloß jetzt“, denn sie enthält all das, was einmal war. Deshalb muss er „durch das Jahr all die Jahre, muss die ganze Gegend erzählen und alles, was nicht mehr da ist.“ Er sammelt Erinnerungen und hebt sie auf als Antiquar der verstreichenden Zeit. Sein Problem: Jeder Moment tendiert, wenn er erzählt sein soll, gegen unendlich, denn nichts ist in der Zeit auszuschöpfen. Seine Utopie: Wenn er mit dem Erzählen doch einmal fertig werden würde (was ausgeschlossen ist), wäre kein bisschen Zeit vergangen und er müsste wenigstens die Dauer des Erzählens nicht eigens wieder aufholen.
Denn je mehr er zu erzählen hat – und er hat sehr viel zu erzählen –, umso atemloser läuft er der Zeit hinterher. Manchmal meint er sich selbst noch sitzen zu sehen in einem Straßencafé, wenn er ein halbes Jahr später – schon wieder Herbst – dorthin zurückkehrt. Er erzählt nicht gegen die Zeit und die Vergänglichkeit, weil das vergeblich wäre, sondern mit ihr, ja, er erzählt die Zeit selbst und wie sie vergeht und will wissen, was das eigentlich ist „und wem sie gehört, die Zeit“. Wie soll man es begreifen, dass nichts bleibt? Auch dieser Frühling nicht? Wieder nicht, wie schon der letzte und wie alle zuvor?
„Vorabend“, tausend Seiten dick, ist der fünfte von zwölf geplanten Bänden einer großen autobiographisch-poetischen Chronik mit dem Obertitel „Das alte Jahrhundert“. Es ist – nicht nur vom Umfang her – ein Opus magnum. „Vorabend“ enthält alle früheren Romane Kurzecks, nimmt sie auf, wiederholt sie, erneuert sie, schreibt sie weiter, denn fertig ist man nie. Eigentlich schreibt Peter Kurzeck sowieso schon seit eh und je immer an ein und demselben Buch. Seine literarische Landschaft entspricht seinem Lebensraum. Vom hessischen Dorf Staufenberg, wo er nach dem Zweiten Weltkrieg als böhmisches Flüchtlingskind ankam und aufwuchs, führen die zunehmend besser asphaltierten und verbreiterten Straßen über Lollar und das Buderus-Eisenwerk (das die zu Nebenerwerbslandwirten mutierten Bauern im neuen Fabrikschritt betreten) über Gießen und die Bundesstraße 3 nach Frankfurt und von dort bei Bedarf weiter ins Sehnsuchtsland Frankreich mit Paris, dem Süden und dem Meer. In Südfrankreich, in Uzès, lebt er die Hälfte der Zeit. Dieses Tableau stellt im Kleinen modellhaft die bundesrepublikanische Großanordnung dar, die sich aus Provinz, Stadt und Ferne zusammensetzte. Kurzeck erzählt bis in die kleinsten Details die Entwicklungsgeschichte der Bundesrepublik vom Ende der vierziger bis in die 80er Jahre hinein. Wer in späteren Jahrhunderten einmal wissen will, was die seinerzeitige Modernisierung in diesem Land und im Bewusstsein der Menschen angerichtet hat, muss Kurzeck lesen – und vielleicht vor allem „Vorabend“: innerhalb dieses gewaltigen Werkes das gewaltigste, großartigste Buch.
Spielten die vorigen Romane ein ums andere Mal im Jahr 1983, nach der traumatischen Trennung des vom Autor nicht zu unterscheidenden Erzählers von seiner Freundin Sibylle und dem Töchterchen Carina, so setzt „Vorabend“ kurz vor dieser Trennung ein, und alles ist wieder da, wie man es schon kennt: Die Wege in den Kinderladen und zurück, die, wenn man sie gründlich erzählt, sehr lange dauern. Die Dachwohnung im Frankfurter Westend und das Espressotrinken in der Küche. Seine Besuche im Verlag und beim Verleger KD Wolff. Das Antiquariat, in dem er ein bisschen Geld verdient, denn Geld ist so knapp wie die Zeit, und die Münzen verschwinden wie die Minuten aus der Tasche und müssen unentwegt nachgezählt werden. Wieder sitzt Peter Kurzeck – oder „Peta“, wie ihn die kleine Carina nennt – da und schreibt an seinem dritten Roman, „Kein Frühling“. Auch daran muss man sich bei ihm gewöhnen: Dass er das Schreiben miterzählt, weil es zu seinem Leben dazugehört. Und wenn er sich an etwas erinnert, erinnert er sich auch daran, wie er sich damals an etwas anderes erinnert hat. So stecken die Zeiten und mit ihnen die Geschichten ineinander. Man kann sich verirren darin und findet nie wieder hinaus.
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Wie soll man es begreifen, dass nichts bleibt?
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Nun aber – und das ist der Handlungsrahmen von „Vorabend“ – ruft Freund Jürgen aus Südfrankreich an, und berichtet, dass er sich von seiner Freundin Pascale getrennt habe, mit der er in einem kleinen Ort ein Restaurant eröffnet hat. (Beide sind Kurzeck-Lesern längst bekannt und vertraut.) Jürgen ist verzweifelt, und Peter ist es auch, denn Jürgen und Pascale sind die besten Freunde. Und schon beginnt er sich zu erinnern, wie er zusammen mit Sibylle und Carina im Oktober 1982 (oder ist es ein anderes Mal gewesen?) Jürgen und Pascale vor ihrem Umzug nach Frankreich ein letztes (vorletztes?) Mal in Eschersheim besuchte, und wie er dort einen ganzen Nachmittag lang, den „Vorabend“ eben, erzählte und erzählte: Von Staufenberg, dem Schwager und seiner Werkstatt, der Frühschicht im „Werk“, einem Grog mit viel Rum und noch einem Grog und seinem Alkoholikerroman „Das schwarze Buch“, den Bauern im Dorf und den schwarzen Witwen in ihren winzigen, sich aneinanderlehnenden Häuschen, den schwerhörigen Alten bei der Gartenarbeit, den Igeln und den Elstern, den neuen Großmärkten und den dazugehörigen Tiefkühltruhen im eigenen Keller, den neuen Straßen und Tankstellen und was die Igel davon halten. Tausend Seiten reichen dafür natürlich nicht, aber jedes Buch muss aus rein praktischen Gründen enden, weil ja auch der Vorabend nicht endlos lange dauern kann.
Kurzeck schafft also eine Situation, in der er vom Erzählen erzählt. Das entspricht seiner am Mündlichen orientierten Schreibweise. Als Schriftsteller ist er immer ein Geheimtipp geblieben, auch wenn ihm längst der Büchnerpreis gebühren würde. Großen Zuspruch erfuhr er zuletzt jedoch mit seinen Hörbüchern, die wie „Ein Sommer, der bleibt“ oder „Mein wildes Herz“ nicht einfach Lesungen wiedergeben, sondern mündliches Erzählen im Vollzug vorführen. Wer ihn einmal sprechen hörte, hat beim Lesen seiner Texte immer diese singende, melodische Stimme im Ohr und verliert diesen Rhythmus nicht mehr, wenn sich die oft ohne Verben im Ungefähren endenden Sätze wie Schlingen aneinanderreihen. Man erkennt Peter Kurzeck an jedem einzelnen seiner Sätze. Diese Sprache ist nichts als Musik und entfaltet die selben Tiefenwirkungen. Sie berührt unmittelbar. Sie ist schön, weil sie für sich selbst etwas ist und sich nicht darin erschöpft, Inhalte zu transportieren. So konnte man auch „Vorabend“ hören, bevor es nun als Buch vorliegt: Peter Kurzeck hat den Text zwischen Juli und September 2010 im Frankfurter Literaturhaus als „öffentliches Diktat“ seinen Texterfassern vorgesprochen.
Das ist insofern konsequent, als das mündliche Erzählen hier zum zentralen Romangeschehen geworden ist. Die Zuhörer – Jürgen, Pascale, Sibylle und Carina – werden gleich miterzählt, und das kleinen Töchterchen treibt ihn mit Zwischenfragen und Anfeuerungsrufen immer weiter voran: „Erzähl, Peta, erzähl!“ Und wenn die Worte nicht ausreichen, dann soll er ihr in bunten Farben malen, wie es damals ausgesehen hat im Dorf oder in einem Sonntagswohnzimmer in Lollar, bevor die Fernseher Einzug ins Leben hielten. Und weil Kurzecks Erinnerungsmarathon immer wieder und völlig zurecht mit Marcel Proust verglichen worden ist, lässt er nun Carina und Sibylle während des Zuhörens Madeleines verzehren, bis sie irgendwann, auf Seite 600 oder so, die ganze Packung aufgegessen haben. Ohne Ende läuft dazu Bob Dylans „Hard Rain“, als ob die Zeit tatsächlich unterdessen stillstehen würde. Bob Dylan ist auch insofern mit Kurzeck verwandt, als beide Spezialisten darin sind, ihre Songs und ihre Erinnerungen immer wieder neu zu interpretieren und sie in der Zeit reifen und sich verändern zu lassen. Dylans Songs sind so wenig ein für allemal fertig, wie die Geschichten von Peter Kurzeck.
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Das Wirkliche muss sich erst in Erinnerungen verwandeln,
um als Wirklichkeit wahrnehmbar zu sein.
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Diese Prosa erzeugt einen unwiderstehlichen Sog. Die Präzision, in der die Wurstauslagen im längst nicht mehr existierenden Metzgerladen oder die Brotsorten aus dem Backhaus beschrieben werden, ist einzigartig. Mit seinem Sinn fürs Verschwinden ist Kurzeck ein moderner Romantiker. Er zeigt eine Welt, die schon lange nicht mehr existiert, zeigt den Wandel, durchaus mit Bedauern über die Verluste, aber niemals sentimentalisch oder in verlogenen Idyllen. Das Bedauern gilt weniger den alten Zuständen, als ihrer unabänderlichen Existenz in der Zeit. Das Alte ist nicht besser, es ist nur anders, und die Sehnsucht gilt ihm, weil es eben nicht mehr existiert. Kurzeck schafft im Erzählen die absolut glaubwürdige Fiktion der Gegenwart dieser Vergangenheit. Es ist, als wäre sie jetzt. Das gelingt ihm, weil er nichts vergisst und auslässt. Genauer besehen handelt es sich aber nicht um das Wiederherstellen der alten Welt, sondern um einen künstlichen Traumzustand, der Phantasiebilder aus der Erinnerung heraufholt. Je genauer die Szenerien sind, umso deutlicher wird: Sie sind bloß ausgedacht. Und vielleicht, vermutet der Erzähler, ist ja auch sein eigenes Leben nur geträumt? Es ist ein Paradox, aber unvermeidlich: Das Wirkliche muss sich erst in Erinnerungen verwandeln, um als Wirklichkeit wahrnehmbar zu sein.
So steht er in seiner Erinnerung einmal als Kind am Güterbahnhof in Lollar. Die Tätigkeiten der Männer, die dort arbeiten, kann er so genau wiedergeben, weil er ihnen damals ganz genau zugesehen hat. Und doch sind sie fiktiv, Erfindungen des späteren Erzählers. All die Supermarktkäufer, Autofahrer und Gartenbetonierer hat es nie gegeben, aber wirklich sind sie umso mehr. Das geht so: „Alles, was du weißt, weißt du allein nur vom Zusehen. Vom richtigen Zusehen! Dass man steht und gafft und sich ausdenkt, wie es für diese Menschen, Tiere und Pflanzen ist, dass sie jetzt diese Menschen, Tiere und Pflanzen sind. Jetzt und immer. Und genauso die Häuser und Wolken und Steine, Dampfloks, Frachtkisten, Zettel und Staub im Wind. Alles, was da ist. Man denkt es sich nur aus, sagte ich. Man kann es spüren. Mit dem ganzen Körper.“
Kurzecks Welt ist gewissermaßen animistisch. Jedes Ding ist belebt, und nicht nur die Häuser fangen zu sprechen an. Die Tiere – Marder, Hasen, Amseln, Elstern und natürlich vor allem die Igel! – werden zu eigenständig denkenden und handelnden Wesen, und das klingt nicht falsch oder schräg, sondern entspricht Kurzecks Gesamtverzauberung der Welt. Ja, er ist ein Zauberkünstler, dessen Texte glücklich machen. Die Welt wird kostbarer, wenn man Kurzeck liest. Die Menschen werden besser, aber nicht deshalb, weil sie fälschlicherweise für gut erklärt würden, sondern weil Kurzeck sie in all ihrer skurrilen Geschäftigkeit so liebevoll betrachtet. Dabei ist er ein „grüner“ Autor, der die Natur und das Ursprüngliche gegen die Zivilisation verteidigt, also allen Grund hätte, die Menschen mit Misstrauen zu betrachten. Aber er weiß auch, dass das Leben ohne Auto weder möglich noch wünschenswert wäre. Nach Feierabend im vierten Gang auf dem Stadtring gleich mehrfach in den selben Sonnenuntergang hinein – das ist es doch!
Sein Werk ist, wenn man so will, „gesellschaftskritisch“ und doch voller Zustimmung. Kritik hat bei ihm nichts mit Negation und Besserwisserei zu tun, sondern ergibt sich, falls erforderlich, aus nichts als der Beschreibung. Wer die Perspektive der Igel einzunehmen vermag, kommt nun mal um einige Sorgen nicht herum. Manchmal wird er ironisch oder gar ein kleines bisschen sarkastisch. Aber es gibt bei Kurzeck keine Bösartigkeit und nichts Gemeines. Das ist das Wunder, das man beim Lesen miterlebt. Ein Traumschlaf der Erinnerung, der am Ende in die Gegenwart und in die Unendlichkeit mündet: „Ist das jeden Abend wieder, dass dein Leben dir vorkommt wie ein einziger langer Tag? Oder als ob du dir alles selbst ausdenkst und immer weiter selbst ausdenken musst?“ Der alte Mann und das Kind, das er war, sind beide ganz und gar gegenwärtig. Wem gehört denn die Zeit? Vielleicht ja doch ihnen selbst, im eigenen Kopf.
Text: Jörg Magenau
Text erschienen in Süddeutsche Zeitung, 16.04.2011
Bild: Peter Kurzeck, Urheber: Dontworry
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Peter Kurzeck: Vorabend. Roman.
Stroemfeld Verlag, Frankfurt am Main 2011, 1022 Seiten, 39,80 Euro
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