Phantasiegebilde – leise und intensiv
Als Schriftsteller wird man nicht geboren; und wenn man den Behauptungen der Klappentexte Glauben schenken möchte, dann reicht es auch nicht aus, nichts als Schriftsteller gewesen zu sein. Also sind sie erst einmal Nachtportiers, Leichenwäscher, Taxifahrer, Waldarbeiter oder was auch immer, denn Schriftsteller müssen vor dem Publikum lebenspralle Erfahrungen und unerschrockene Neugierbereitschaft erkennen lassen. Worüber sollten sie sonst auch schreiben.
Die Aktivitäten, die in der Klappentextkurzbiographie von Clemens J. Setz genannt werden, sind dagegen auffallend erfahrungsarm. Neben der Literatur und dem Übersetzen zählt der 1982 in Graz geborene Autor Mathematik, Obertonsingen und Gelegenheitszaubern auf, Tätigkeiten mithin, die sich durch spielerische Sinnlichkeit und einen hohen Abstraktionsgrad auszeichnen. Von hier aus lässt sich jedoch ein Zugang zu seinen Erzählungen finden, die sich so lesen, als ob da einer seine Phantasiegebilde zu Denksportübungen ausgebaut habe, um an seinen Einfällen wie an einem dieser bunten Zauberwürfel aus dem vergangenen Jahrhundert herum zuschrauben. Der Genuss an solchen Tüfteleien hat immer auch etwas mit Besessenheit zu tun.
So eine Figur kreativen Schöpfertums skizziert Setz in der Geschichte „Kleine braune Tiere“. Darin entwirft er die fiktive Biographie eines Computer-Nerds, der ein großartiges Computerspiel entwickelte und wie alle Genies früh und einsam starb. Ins Nerdhafte geht auch die in mehreren Geschichten wiederkehrende Faszination für gewagte bis fragwürdige sexuelle Praktiken und Demütigungsrituale, Phantasien, die sich aus Gewaltpornos speisen und wie Blitzlichter die Normalität zerreißen. Ein durchgängiges Thema ist die Einsamkeit der Figuren, die nicht nur im sexuellen Bereich immer wieder in Gewalt umschlägt. In einer Geschichte fliegt ein Mann ganz allein durchs Weltall, wo er in seinem Labor einen Roboter baut, der in der Lage sein soll, Musik zu hören und mit ihm darüber zu sprechen. Doch als der Erfinder zum Test die ersten Takte aus Elgars Cellokonzert in das künstliche Ohr hineinsummt, explodiert der Roboterkopf, dem die schlichten Töne schon zu komplex sind. Das kann eben auch passieren, dass der Zauberwürfel einfach auseinander bricht.
Nach zwei hoch gelobten Romanen und der Auszeichnung mit dem Bremer Literaturpreis 2010 hat Clemens J. Setz unter dem Titel „Die Liebe zur Zeit des Mahlstädter Kindes“ nun achtzehn Erzählungen gebündelt, also all das in ein Buch gepackt, was im Lauf der jungen Jahre so nebenbei entstanden ist. Damit hat er es immerhin auf die Shortlist des Leipziger Buchpreises geschafft. Einige wenige in ihrer Abgründigkeit gelungene Texte müssen dafür den Ausschlag gegeben haben, denn daneben findet sich auch viel Belangloses und hilflos Überdrehtes. Ein kleiner Kick ins Surreale ist oft der letzte und allzu bequeme Ausweg aus den selbst geschaffenen Rätselanordnungen.
Manchmal ist die Idee besser als die erzählerische Umsetzung – so in der Titelgeschichte. Das „Mahlstädter Kind“ ist eine Figur aus Lehm, die von einem Künstler als „work in progress“ aus weichem Lehm entworfen wurde. Die Bewohner der Stadt sind aufgerufen, dem Lehmkind eine „allgemein als vollkommen empfundene Form“ zu geben, ganz egal, ob sie das mit Tritten, Hammerschlägen oder Fahrradketten bewerkstelligen. Die durch Kunst entfesselten Aggressionen einer Kleinstadtbevölkerung – was für ein Stoff könnte das sein! Und doch wird bei Setz daraus nur ein blasses, abgepaustes Bildchen, das die Wut allenfalls behauptet, ohne sie verständlich zu machen und das deshalb in eine belanglos vergebliche Liebesgeschichte abdriftet. Dass er sich als Absurdist um Realitäten nicht ernsthaft kümmern zu müssen glaubt, lässt nicht nur diese Geschichte ins Leere laufen.
In anderen wiederum ist die Umsetzung besser als die Idee – so etwa im Fall des Mannes, der in seiner Wohnung eine Leiche vorfindet und vergeblich versucht, sie zu entsorgen. Erst stopft er sie hinter die Heizung, dann legt er sie in die Badewanne, dann steckt er sie in den Schrank. Aus einer fast schon klischeehaft dürftigen Situation macht Setz ein unterhaltsame kleine Tragödie. Er weiß, dass ihm das Schreiben leicht fällt. Er weiß es vielleicht zu gut und verlässt sich allzu sehr darauf, mit ein paar gewagten Bildern und treffenden Formulierungen dann doch noch einmal die Kurve zu kriegen. Manches geht im Eifer des Erzählens aber auch daneben; schiefe Bilder sind der Preis der Originalität, den Setz zu zahlen hat. (Beispiele auf Nachfrage).
In zwei ziemlich perfekten Geschichten aber gelangen Idee und Unsetzung in Übereinstimmung. In „Das Riesenrad“ liegt das daran, dass Setz auf alle Pointen und besonderen Einfälle verzichtet – sieht man einmal davon ab, dass eine Frau eine Kabine im Riesenrad bewohnt – ein Ort, an dem sie sich in ihre Einsamkeit zurückziehen kann. Beschrieben wird ein Tag, an dem eigentlich nichts geschieht, so dass die unausweichliche Grundtraurigkeit des Lebens hier einmal unverstellt sichtbar wird. Die beste Geschichte aber ist gleich die erste des Bandes, „Milchglas“, eine Kindheitsgeschichte, die von Freundschaft, Gewalt und Abhängigkeit handelt. Das allerschönste an ihr ist die allererste Seite, in der Setz „Grauzonen von Traurigkeit, Wahnsinn und Einsamkeit in Gegenständen, Gebäuden und Situationen“ aufzählt. Offenstehende Garagen mit einem ewigen Ölfleck auf dem Boden gehören dazu. Solche Orte und Dinge (wie zum Beispiel verbogenes Besteck) enthalten schon fast die ganze Geschichte. Da offenbart sich Setz als genauer und empfindsamer Beobachter, dessen genialischer Im-luftleeren-Raum-kann-ich-alles-Gestus doch nur die eigene Melancholie überdeckt. Solche leisen, intensiven Momente finden sich zum Glück immer wieder in seinen Geschichten. Dafür lohnen sie sich.
Text: Jörg Magenau
Text erschienen in taz, 17.03.2011
Clemens J. Setz: Die Liebe zur Zeit des Mahlstädter Kindes
Erzählungen. Suhrkamp Verlag, Berlin 2011
352 Seiten, 19,90 Euro
bei amazon kaufen
- Sibylle Lewitscharoff: Das Pfingstwunder - 6. September 2016
- Elias Canetti: Das Buch gegen den Tod - 25. Dezember 2014
- Ernst Jünger: Feldpostbriefe an die Familie 1915-1918 - 9. November 2014
Schreibe einen Kommentar