Eine Zeitung für die Ewigkeit
Kann man zu zweit autistisch sein? Vielleicht geht das nur bei eng verbundenen Geschwistern, wie den legendären Brüdern Homer und Langley Collyer, die 1947 in ihrem Haus in New York in völliger Isolation starben.
In jahrzehntelanger Kleinarbeit hatten sie es mit Müll, Zeitungen und Gerümpel aller Art vollgestopft, bis sie sich darin kaum noch bewegen konnten. Die Fenster waren vernagelt, die Türen verbarrikadiert. Weil sie ihre Rechnungen nicht bezahlten (obwohl sie wohlhabende Erben waren), wurde ihnen Gas, Strom und Wasser abgestellt. Langley starb, weil er sich in einer gegen Einbrecher gelegten Falle verfing und von einem seiner Zeitungsstapel erschlagen und begraben wurde. Es dauerte Wochen, bis der Tote unter dem Müll gefunden werden konnte. Der erblindete Homer, ohne ihn hilflos, war wenige Meter neben ihm verhungert.
Dieser Fall, paradigmatisch für das sogenannte Messie-Syndrom, liefert dem New Yorker Autor E. L. Doctorow das Material für seinen Roman „Homer & Langley“. Mit Romanen wie „Ragtime“, „Billy Bathgate“ oder „Das Wasserwerk“ ist der gerade 80-Jährige zu einem Geschichtsschreiber New Yorks geworden. Nun hat er die Geschichte der Brüder in all dem Müll und Gerümpel freigelegt, mit dem sie sich umstellten, um sich – so Doctorows Deutung – vor der entsetzlichen Welt in Sicherheit zu bringen.
Mit den Fakten und Daten geht er jedoch großzügig um: So lässt er Homer schon im Alter von 20 Jahren, noch vor dem ersten Weltkrieg, erblinden und nicht erst, wie es wohl tatsächlich war, in den 30er Jahren. Den Tod der Brüder verlegt er vom Jahr 1947 in die Zeit nach Vietnamkrieg und Hippie-Ära, um an den allmählich aus der Welt verschwindenden Brüdern das ganze amerikanische 20. Jahrhunderts vorbeiziehen zu lassen. Sein Erzähler ist der blinde Homer, den er im höheren Alter auch noch taub werden lässt. Für Doctorow mag darin eine besondere handwerkliche Herausforderung bestanden haben, die er glänzend besteht: Wie stellt man die Welt aus der Sicht eines Mannes dar, der nichts mehr sieht und hört?
Homer tippt seine Erinnerungen in eine Schreibmaschine mit Brailleschrift. Doch nicht nur die Sinne schwinden ihm, sondern auch die Erinnerungsfähigkeit. Gibt es diese Frau wirklich, für die er alles aufschreibt, oder ist sie nur eine schöne Einbildung? Die Hippies aus dem Central Park, die für einige Monate ins Haus kommen, sind dagegen wohl eine reale Erinnerung, wie auch die Nachbarschaft, die zur Zeit der großen Depression sich zum allwöchentlichen Tanztee in den damals noch begehbaren Räumen der Brüder einfand. Die Zeit erscheint dem alten Homer „wie ein Driften, wie treibender Sand“, und die Erinnerungen an ein Leben in zunehmender Isolation kommen ihm selbst mehr und mehr gespenstisch vor. Homer ist von den beiden Brüdern jedoch der wärmere, menschenfreundlichere. Langley, der aus dem ersten Weltkrieg mit einer vom Gas geschädigten Lunge zurückkam, sieht die Geschichte der Menschheit dagegen als Chronik eines verdienten Untergangs.
Sein großes Projekt – das ist die geniale Erfindung Doctorows – ist eine Tageszeitung für die Ewigkeit, die so universal gültig sein soll, dass sie überall und jeden Tag lesbar bleibt. Dafür sammelt er alle greifbaren Zeitungen und stapelt sie im Haus, um sie auszuwerten. Langley ist also der paradoxe Fall eines Menschen, der sich vor dem Geschehen der Welt in die Abstraktion zu retten sucht, bis er von seinen Zeitungsstapeln begraben wird. Erschwerend kommt hinzu, dass die Brüder mit Journalisten keine guten Erfahrungen machen und lernen müssen, dass dem, was in den Zeitungen steht, grundsätzlich zu misstrauen ist. Statt bleibender Erkenntnisse entsteht also nichts als Müll. Aber wo ist der Unterschied? „Was wissen wir denn wirklich“, fragt Langley. „Wenn jede Frage beantwortet ist und wir alles über das Leben und das Universum wissen, was es zu wissen gibt, was dann?“
Von dieser Lücke zwischen dem Ich und der Welt, zwischen dem Wissen und der Erkenntnis, handelt dieser Roman auf subtile Weise. Die Antwort der Brüder ist das Ausblenden der Wirklichkeit und das eigene Verschwinden, das konsequenterweise darauf folgt. Der Preis, den sie dafür zahlen, ist hoch: Sie verwandeln sich in Gespenster ihrer selbst, die in dem Haus, in dem sie einst wohnten, zwischen toten Dingen herumtappen. Doctorow hat daraus eine großartige, parabelhafte Erzählung gemacht.
Text: Jörg Magenau
aus: Radiofeuilleton, Kritik, © 2011 Deutschlandradio, (08.02.2011)
E. L. Doctorow: Homer & Langley
Roman, aus dem Amerikanischen von Gertraude Krüger
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2011
220 Seiten, 18,95 Euro
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