Ein Held des Aushaltens
Die Geschichten gehen ihm so schnell nicht aus. Das Reservoir seiner Möglichkeiten ist so unendlich wie das Universum. Jochen Schmidt kann aus jedem noch so unbedeutenden Fundstück etwas machen, und handle es sich auch nur um die „Märkische Oderzeitung“ vom Tage. Noch im kleinsten Detail entdeckt er das Große: eine Geschichte oder wenigstens das Material für einen erzählten Augenblick, der immer sehr viel besser zu ertragen ist als die unerzählte, pure Gegenwart.
Das Universale im Verhältnis zum Alltäglichen kommt bereits im Titel seiner jüngsten Sammlung von Geschichten, Kolumnen oder auch bloßen Fingerübungen zum Ausdruck: „Weltall – Erde – Mensch“. Aus diesem kosmischen Kontrast schöpft Schmidt das Komische, das seine Texte auszeichnet. Sie sind zum Lachen, obwohl sie eigentlich tieftraurig sind – oder sagen wir so: Sie setzen der existentiellen Universaltraurigkeit des Daseins, der verdammten Vergänglichkeit, der nervtötenden Sinnlosigkeit, der verfluchten Verzweiflung und der elenden Einsamkeit Humor entgegen, um damit gegen alle Herausforderungen zu bestehen. Es ist allerdings eine Art Humor, bei der man die Mundwinkel nicht verziehen darf, um würdevolle Haltung zu bewahren.
Denn Humor ist eine Frage der Haltung oder, literarisch gesehen, der Perspektive. Wer seine nächste Nachbarschaft so betrachtet, als blicke er aus dem Weltall auf die Erde herab, der tut das natürlich auch, um sich selbst in sichere Distanz zu bringen. So wie der Erzähler, der in seiner Wohnung eine Party gibt, obwohl er nichts so sehr zu fürchten scheint, wie Gäste.
„Ich darf meine Gäste nicht aus den Augen lassen, aber ich muss zur Tür, weil in immer schnellerem Rhythmus neue Gäste eintreffen, die ich als Gastgeber persönlich begrüßen muss, während die bereits anwesenden Gäste meine Unaufmerksamkeit nutzen, um durch die Wohnung zu toben und auf den Boden zu spuken. Machtlos sehe ich durch die geöffnete Flurtür, wie sie, berauscht von der eigenen Bosheit, ausgelassen in die Hände klatschen. Dabei scheinen mich die meisten von ihnen gar nicht zu erkennen und selbst für einen Gast zu halten. Sie saugen an den Flaschen, und für mich bleibt nur das Gurkenwasser.“
Jochen Schmidt ist ein Autor der Berliner Lesebühnenwelt. Jeden Donnerstag tritt er zusammen mit anderen Alltagspoeten auf der „Chaussee der Enthusiasten“ auf, einer Lesebühne, die er vor mehr als zehn Jahren mitgegründet hat. Damals, 1999, gewann er auch den „Open Mike“ der Berliner Literaturwerkstatt mit einem Text über einen alten Mann aus dem Oderbruch, einer Region östlich von Berlin, die auch im neuen Buch verschiedentlich eine Rolle spielt. Das Oderbruch ist Dorfwelt, Kindheitsregion und DDR-Vergangenheit, alles Dinge, die im Erzählkosmos Jochen Schmidts eine wichtige Rolle spielen. Vielleicht war das Nacherzählen der Jugend in der DDR, zu einem Zeitpunkt, als die DDR massiv verschwand, ja sogar der eigentliche Grund für die Entstehung der Lesebühnen.
Auf diesem DDR-Boden wuchs die Großstadtalltagsprosa mit ihrem melancholischen Dauertremolo von Einsamkeit, Erfolglosigkeit und Hypochondrie. Lesebühnenautoren – und also auch Jochen Schmidt – sind definitionsgemäß scheiternde Autoren, weil sie ihr Scheitern an sich und der Welt zum fortgesetzten Thema machen, das sie spätestens mit dem ersten Bestseller verlieren würden – was aber nicht heißt, dass sie sich nicht verzweifelt danach sehnen. Daraus ergibt sich zwingend, dass für den Gastgeber der Party in der eigenen Wohnung bald kein Platz mehr ist. Der Ort des Autors ist eine gefährliche Hanglage.
Und für meine künstlerische Darbietung, mit der ich den Abend bereichern wollte, bringt niemand Interesse auf. Man schubst mich durch die Wohnung, bis ich mich von der Balkonbrüstung hänge, um etwas auszuruhen, während man mir auf die Finger ascht. Neben mir hängt meine Nachbarin, die immer so rührende Geräusche macht beim Masturbieren, denn als Frau verfügt sie über eine natürliche Anmut, die sie auch hier nicht im Stich lässt.
Die prekäre Lage des sensiblen Menschen und seine gesellschaftliche Randstellung bringt bereits der im typischen Lesebühnenvortrag vorherrschende unambitionierte Tonfall zum Ausdruck. Der störende Eindruck der Professionalität soll unbedingt vermieden werden, ja schon der Eindruck, da trage jemand so etwas wie „Literatur“ vor. Schließlich geht es hier um das Leben selbst. Der etwas leiernde, leidende und hörbar berlinernde Ton gehört zu diesen Texten dazu. Deshalb ist es sehr zu begrüßen, dass „Weltall – Erde – Mensch“ im Verlag Voland & Quist erschienen ist, der es sich zur Regel macht, Bücher zusammen mit einer Audio-CD auszuliefern.
Erstaunlich nur, dass Jochen Schmidt bei seinem Bachmannpreisauftritt in Klagenfurt im Jahr 2007 nicht gewonnen hat, wo doch alles für ihn sprach. Der Text, den er dort vortrug, ist in „Weltall – Erde – Mensch“ nun endlich nachzulesen, gewissermaßen als Titelgeschichte. Konsequenterweise hat sich Schmidt da gleich in die Rolle eines Kosmonauten hineinversetzt, der in einer Raumstation um die Erde kreist, aber keine Lust mehr hat, mit der Bodenstation zu sprechen und in Wirklichkeit ja auch nur aus Liebeskummer da oben seine Runden dreht. So groß ist nun mal die natürliche Einsamkeit des Mannes, der sagt: „Eine Frau, die man verloren hat, ist wie ein Sternbild, an dem man seine Position sein Leben lang ausrichten wird.“
Man möchte eigentlich Satz für Satz herausschreiben und zitieren, denn „es gibt ja in Wahrheit keinen geschriebenen Satz, der sich nicht an die ganze Menschheit richten würde.“ Schmidt schreibt – das ist auf der Lesebühne Pflicht – auf Effekt. Seine Prosa ist wie ein riesiges Feuerwerk – und vielleicht liegt darin ja auch das Problem. Vielleicht hat die Präzision, mit der da einer das Universum funkelnd komisch verpuffen lässt, um die bodenlose Traurigkeit des Helden zu tarnen, das Misstrauen der Jury in Klagenfurt hervorgerufen.
Dabei könnte man Jochen Schmidt als den legitimen Nachfolger des großen Reinhard Lettau sehen – nicht nur, weil er mit ihm das Misstrauen gegen Gäste im Allgemeinen und gesellschaftliche Zwänge im Besonderen teilt. Auch die Verurteilung von inkonsequenter Reisetätigkeit (der klimaneutrales Zuhausebleiben allemal vorzuziehen ist) findet sich bei beiden. „Solange man auf Reisen noch mit einer Rückkehr rechnet, ist man ja im Grunde noch zu Hause“, sagt Schmidts Kosmonaut. Vor allem aber erinnert er deshalb an Lettau, weil er verstanden hat, dass Misanthropie und Weltabwendung Formen von Freundlichkeit sind. Der Mann, der da durch den Raum kreist oder am Balkongeländer hängt, ist wahrlich zu großen Opfern bereit: Ein Held des Aushaltens.
Es ist immer aufschlussreich, Gäste zu haben, denn erst als Gast zeigt der Mensch sein wahres Gesicht. Den wenigsten Gästen gelingt es, einen für sie befriedigenden Abend zu verbringen, ohne eine Unordnung zu hinterlassen, die sich nie wieder ganz beseitigen lässt, oder Sätze zu sagen, über die man im Bet lange nachdenken muss, während der Gast sich schon auf dem Heimweg befindet, sich den Mund abwischt und triumphierend die Hände reibt, weil seine Rechnung wieder einmal aufgegangen ist.
Text: Jörg Magenau
zum Nachhören auf WDR 3 Buchrezension – Passagen:
Jochen Schmidt „Weltall. Erde. Mensch.“ – rezensiert von Jörg Magenau (Passagen 28.01.2011) © WDR 2010
Jochen Schmidt: Weltall. Erde. Mensch.
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