„Den, den ich finden wollte, habe ich nie gefunden“
Sie sei „nachtaktiv”, schrieb sie, ich solle sie doch bitte so spät wie möglich besuchen kommen. Nun dämmert es schon, während wir in ihrer Altbau-Wohnung im Berliner Bezirk Prenzlauer Berg sitzen und reden. Gardinen wehen am offenen Fenster. Der Blick nach draußen geht in einen frisch sanierten Hinterhof. Natascha Wodin macht kein Licht, und allmählich verschwinden die Konturen der Bücherregale, des Schreibtischs und der antiken Kommode, auf der ein üppiger Rosenstrauß steht. „Ich habe diesen Lebensrhythmus aus der Zeit mit Wolfgang Hilbig beibehalten”, sagt sie. „Das hat sich so stark eingeprägt, dass ich mich nicht mehr umstellen kann.”
„Nachtgeschwister” heißt der neue Roman von Natascha Wodin, der ein Hilbig-Roman ist oder vielmehr die Geschichte einer komplizierten Liebe erzählt – einer Liebe allerdings, die auf Vernichtung zielt und in der es schließlich nur eine Alternative gibt: „Er oder ich”. Das ist der Ausgangspunkt dieses unerschrockenen Buches. „Ich bin der Wahnidee verfallen, dass ich sein Rätsel lösen, dass ich in mir den Blick finden muss, der ihn erklärt und damit entmachtet. Ich bilde mir ein, dass mich nur das retten kann. Retten vor dem Gefühl, dass ich nicht mehr leben kann, solange er lebt”, heißt es da.
Es sei naiv gewesen zu hoffen, dass der Roman besprochen werde, ohne dass dabei sein Name falle, sagt Wodin jetzt. Vielleicht hatte sie diese Illusion, weil sie glaubte, Hilbig damit endlich losgeworden zu sein. Doch ihre gemeinsame Geschichte ist so außergewöhnlich, dass man dabei von den realen Figuren nicht gut abstrahieren kann. Hilbig hängt ihr immer noch an. „Hilbig” steht auch auf dem Klingelschild an der Haustür, als wohne er noch bei ihr. Es ist ihr amtlicher Name, den sie nach der Scheidung behalten hat. „Wenn Post für Hilbig kommt, ist das immer etwas Unangenehmes”, sagt sie lachend. Auch Wodin ist nur ein Pseudonym. Sie musste es akzeptieren, weil der Rowohlt Verlag sonst ihr erstes Buch nicht publiziert hätte: Natalja Nikolajewna Wdowina, ihr richtiger Name, sei der deutschen Leserschaft nicht zumutbar. Seither heißt sie Natascha Wodin: „Ich trage das wie einen Buckel.”
1986 lernten sie sich kennen – die Tochter ukrainischer Zwangsarbeiter aus Nürnberg und der Dichter aus Meuselwitz in Sachsen, der bei einem analphabetischen Großvater aufgewachsen war und das Tagebaugebiet der DDR zu seiner literarischen Landschaft machte. Hilbig war kurz zuvor mit einem Jahresvisum in die Bundesrepublik gekommen. Von 1994 bis 2002 waren sie verheiratet, aber schon 1993 hat Wodin begonnen, über diese Geschichte zu schreiben. 2007 starb Hilbig an Krebs – und so schrecklich das auch sei, sagt sie, sein Tod war ein letzter Auslöser, um mit dem Buch fertig zu werden.
Eine Rast, ein Aufschub des Untergangs
Die äußeren Daten teilen nichts von der Dramatik dieser Schriftstellerbeziehung mit, über die Hilbig schon in seinem Roman „Das Provisorium” geschrieben hat. Wodin heißt dort „Hedda Rast” – ein Name, der in ihren Ohren immer wie „Päderast” klinge. Wie er auf Hedda gekommen sei, wisse sie nicht, aber offenbar habe er das Zusammensein mit ihr trotz allem als eine Art Rast empfunden. Immerhin hat er eine Zeit lang nicht so viel getrunken, und er wurde neben ihr zu einem berühmten Autor. „Vielleicht”, schreibt Wodin, „war unsere gemeinsame Zeit nur eine Rast, ein Aufschub des Untergangs gewesen, in dem er sich schon damals befand, als wir uns trafen. Vielleicht, so dachte ich, hatte er den Untergang der DDR nicht überlebt.”
In „Nachtgeschwister” heißt der Dichter, der aus der DDR kommt, Jakob Stumm. Er erinnert in allem – der gedrungenen Statur, dem klobigen Gesicht, der gepressten Stimme, dem sächsischen Dialekt, den Lebensumständen mit Freundin und Kind in Leipzig – an Wolfgang Hilbig. Er ist es – und bleibt doch eine literarische Figur. Jakob Stumm ist ein sprechender Name. Jakobs Kampf mit dem Engel muss man sich in diesem konkreten Fall allerdings eher als Kampf mit den Dämonen der eigenen Herkunft und des Alkoholismus vorstellen. „Stumm” ist die adäquate Bezeichnung für einen, der nicht in der Lage war, über sich zu sprechen und der deshalb schreiben musste. „Er redete über nichts als Literatur”, sagt Wodin. „Alles andere interessierte ihn nicht. Wenn ich etwas von ihm wollte, hörte er gar nicht zu. Was ich ihm mitzuteilen hatte, musste ich in Zitate aus Büchern hineinschmuggeln. Ich las ihm etwas vor – von Jewgenia Ginsburg beispielsweise –und fügte meine Mitteilung ein. Wie einen Kassiber. Nur so war er zu erreichen.”
Im Grunde, sagt sie, habe er sich nicht wirklich für sie interessiert, sondern nur für die Projektionen in seinem Kopf. So schenkte er ihr in der Anfangszeit immer wieder warme, weiche Nachthemden, obwohl sie ihm sagte, sie friere nachts nicht, sie brauche keine warmen Nachthemden. Doch in seiner Vorstellung musste eine Frau warme Nachthemden tragen. Vielleicht ging es auch nur darum, so etwas wie Fürsorge zu zeigen oder wenigstens die Illusion davon. Bis er eines Tages dazu überging, die Nachthemden selbst zu tragen und sich darin so wohlzufühlen, dass er sie den ganzen Tag nicht mehr auszog. So erscheint er dann auch in einer Szene des Romans: „Wenn er mir so gegenüber saß in einem meiner halblangen, bunt bedruckten Baumwollnachthemden, mit seinen langen, ergrauten Haarsträhnen, mit dem fehlenden Bartwuchs an den Stellen, an denen andere Männer Koteletten trugen, mit seiner Männerphobie, seiner Frauenmanie und seinem unermüdlichen Selbsthass, mit seinem unverkennbaren Wohlgefallen an sich selbst in der von mir geliehenen weiblichen Hülle, dann fragte ich mich manchmal, ob sein ganzes Rätsel, seine Lebenstragödie womöglich darin bestanden, dass er in seiner Anlage tatsächlich eine Frau war, ein Versehen der Natur, die ihn in einen männlichen Körper gesteckt hatte, ohne dass ihm das als Urgrund seiner Verwirrung jemals bewusst geworden war.” Er sei – fügt Wodin im Gespräch hinzu – mit nichts zu vergleichen gewesen. Ein Alien, der auch selbst keinen Maßstab für sich fand.
Aus Erfundenem wird reale Erinnerung
Darf man einen vertrauten Menschen so zeigen? Ist diese Geschichte nicht zu intim, um sie literarisch preiszugeben? Geraten die Leser nicht automatisch in die Rolle von Voyeuren? Doch andererseits: Wie könnte man einen wie Hilbig bloßstellen, dessen Literatur eine einzige, furiose Selbsterniedrigung und dessen Leben eine gezielte Selbstvernichtung gewesen ist? Im„Provisorium” hat er die eigene Alkoholsucht bis in die tiefsten Abgründe hinein dargestellt – und damit verbunden, seine Unfähigkeit zu lieben. Nach der Trennung von Wodin schrieb er die finstere Erzählung „Der dunkle Mann”, in der es um die gemeinsamen Jahre im pfälzischen Edenkoben geht. Wodin empfand diesen Text nicht ganz zu Unrecht als Rachephantasie, als „richtig schwere Gemeinheit”. Auf die Idee, dagegen vorzugehen oder gar zu klagen, wäre sie aber niemals gekommen.
Die Frage, ob es eine Grenze gebe, eine Moral, an der sie sich im Schreiben orientiere, verneint sie. „Die Moral kann sich nur im Text herstellen. Darüber denke ich nicht nach. Wenn der Roman gelungen ist, dann entscheidet sich die moralische Frage ästhetisch.” Das heißt: sprachliche Genauigkeit, die literarische Stimmigkeit der Motive entscheiden darüber, was legitim ist und was nicht. Dass „Nachtgeschwister” an keiner Stelle das Gefühl zulässt, an einer Indiskretion teilzuhaben, wäre dann ein Indiz für das Gelingen. Und noch etwas kommt hinzu: Der Roman funktioniert auch dann, wenn man die realen Voraussetzungen nicht kennt. Er transportiert das Geschehen auf die literarische Ebene, wo alle Elemente innerhalb der Gesamtkonstruktion ihren Platz und ihre Berechtigung haben. Als Abrechnung lässt er sich schon deshalb nicht lesen, weil Wodin sich selbst nicht schont. Offen spricht sie von ihrem Neid auf Hilbigs Erfolg, wie unerträglich es für sie gewesen sei, als Schriftstellerin in seinem Schatten zu verschwinden und zu sehen, wie er große Preise bekam und mit dem Stasi-Roman „Ich” den Nerv der Zeit traf, während für sie keine öffentliche Aufmerksamkeit übrig blieb.
Wodins Bericht ist von schmerzlicher Genauigkeit. Das vernutzte Wort „schonungslos” trifft hier einmal wirklich zu. Beschönigen liegt ihr nicht. Man muss die Wirklichkeit so zeigen, wie sie ist. Darin besteht ihr literarisches Credo. Sie könne gar nichts erfinden, sagt sie, und doch nehme beim Schreiben die Geschichte immer wieder ihren eigenen Verlauf. Es gelinge ihr leider nie, ganz bei den realen Ereignissen zu bleiben. Man darf deshalb auch diesen Roman nicht eins zu eins lesen: So genau er der Wirklichkeit nachspürt, so weicht er doch in mancher Erfindung davon ab. Wahrheit besteht nicht in buchstabengenauer Übereinstimmung. Wenn sie Jahre später in ihren Büchern lese, wisse sie oft selbst nicht mehr,was tatsächlich geschehen sei und was sie erfunden habe. Sowie auf dem inszenierten Foto, wo russische Soldaten die Rote Fahne auf dem Reichstag hissen, beansprucht das Erfundene seinen Platz in der Erinnerung. Der Roman ist das Leben, weil das Leben ein Roman ist.
Welche Dummheit, sich in Gedichte zu verlieben
Nicht erfunden ist der Anfang der Geschichte. Zunächst fiel ihr ein Lyrikband Hilbigs in die Hände, und sie verliebte sich in den Dichter – oder vielmehr in seine Gedichte. Sie war hingerissen von dieser poetischen Kraft und musste den Menschen, der eine solche Sprache besaß, kennen lernen. Sie schrieb ihm einen Brief nach Leipzig, in die ferne DDR, und wartete lange vergeblich auf Antwort. Dann aber setzt die Fiktion ein: wie die Ich-Erzählerin dort anruft, über die Staatsgrenzen hinweg, wie das Telefon wochenlang ins Leere klingelt, bis eines Tages jemand abnimmt und mit abstoßender Stimme seinen Namen bellt: „Stumm!” Von da anruft sie ihn immer wieder an, doch sie sprechen kein einziges Wort. Nur ein Rauschen ist in der Leitung und ein stundenlanges, nächtliches Schweigen. Hilbig erzählt im „Provisorium” eine andere Version des Kennenlernens. Aber auch die sei erfunden, sagt Wodin und lacht. „Es war eine Dummheit. Ich weiß, was für eine große Diskrepanz zwischen Autor und Werk besteht. Doch es nützt nichts. Ich verliebe mich immer wieder in Musik, in Texte. Das ist eine Ebene, wo ein Mensch mir näher ist, weil er sich da tiefer offenbart.” Hilbig, für den die Literatur alles, das banale Leben aber nicht viel bedeutete, bestärkte sie darin. „Den, den ich eigentlich finden wollte, den habe ich nie gefunden”, sagt sie nach einer kleinen Pause in das dunkel gewordene Zimmer hinein. „Der, der kam, war überhaupt nicht der, den ich mir vorgestellt hatte. In den Gedichten habe ich von einem Verlorenen gelesen. In dieses verlorene Ich habe ich mich verliebt. Das kam natürlich auch. Nur sah diese Verlorenheit anders aus, als ich sie mir vorgestellt hatte. Sie war sehr proletarisch, sehr aggressiv, cholerisch, sich maßlos entziehend und bis zur Erstickung vereinnahmend. Das alles habe ich in den Gedichten natürlich nicht gelesen. Ich habe gedacht, dass ein Mensch, der so über die Hölle schreiben kann wie dieser Mann, die Hölle überwunden haben muss. Doch das Phänomenale an diesem Schriftsteller ist: Er schreibt wirklich mit der verbrannten Hand über das Feuer, wie Ingeborg Bachmann einmal sagte. Er steht mittendrin und schreibt darüber. Er hat keine Distanz. Das ist mir etwas Unerklärbares.”
Zwei Romane, die wie Geschwister sind
Wodins „Nachtgeschwister” und Hilbigs „Provisorium” bestehen nebeneinander und erhellen sich gegenseitig – wenn man das bei so viel Düsternis sagen kann. Viele Motive aus Hilbigs literarischer Welt kehren in „Nachtgeschwister” wieder und sind verwandelt, weil die Perspektive eine andere ist und nun eine Frau von außen auf diesen Untergeher schaut. Seine Gänge zum Briefkasten, wenn er nachts an verschiedene Frauen geschrieben hat, kennt man bereits aus Hilbig-Erzählungen. Pornografisches vermutet sie, er macht sich über ihren Verdacht lustig und gibt ihr zu verstehen, dass sie keine Ahnung habe. In Briefen, so mutmaßt Wodin heute, konnte er sich in die richtige Entfernung bringen, konnte Nähe zu Frauen herstellen, ohne die Distanz aufgeben zu müssen und sich bedroht zu fühlen. Auch Hilbigs Motiv der bedrohlichen Fruchtbarkeit der Natur kehrt bei Wodin verwandelt wieder. Er schrieb darüber in der Erzählung „Die Flaschen im Keller” – einer großen, metaphorischen Darstellung der eigenen Sucht: Der Obstgarten der Kindheit brachte stets so viele Früchte hervor, dass das „unbesiegbare Obst” trotz aller Saft- und Einmachkünste der Mutter schließlich alles überschwemmte und den Hof in einen mostigen Sumpf verwandelte, in dem sich Wespen- und Fliegenschwärme spiegelten. In „Nachtgeschwister” rückt Wodin an die Stelle der Mutter, wenn sie im Garten in Edenkoben wochenlang Beeren erntet und einmacht, ohne der Flut Herrin zu werden, und damit Kindheitsängste in ihm reaktiviert, von denen sie nichts ahnen kann.
Wenig erstaunlich, dass die Sichtweisen am deutlichsten auseinander klaffen, wenn es um die Besuche seiner Mutter in Edenkoben geht: Für Wodin ein einziges Ärgernis, weil er nicht in der Lage ist, diese Besuche zu verhindern, sich dann aber wegduckt in sein Schweigen, im Arbeitszimmer verschwindet und ihr das Gespräch mit der Mutter überlässt: „Er löste das Problem durch Abwesenheit.” In Hilbigs literarischer Version muss die arme Mutter dagegen überhaupt nur deshalb zu Besuch kommen, weil „meine Frau sich weigerte, in den Osten zu fahren”. Die Frau verlässt während dieser Tage das Haus und quartiert sich bei einer Freundin ein, weil sie die doppelte Unselbständigkeit von Mutter und Sohn nicht erträgt. „Ihr habt nur gelernt, auf Anweisungen zu warten, weil ihr keine Begriffe von euch selbst im Kopf habt”, sagt sie, und er entgegnet, sie benähme sich „wie eine ständige Vertretung der Bundesrepublik Deutschland”.
Eine erbarmungslose Leere
Hilbigs Geschichte ist eine Geschichte des Verstummens, der inneren Abwesenheit, des Ertrinkens in sich selbst. Sein letzter Prosatext, der nun im Rahmen der Werkausgabe erstmals aus dem Nachlass erscheint, handelt davon. Er heißt „Die Nacht am Ende der Straße” und ist, zwei Jahre vor seinem Tod, seine Abschiedserklärung als Schriftsteller. Hilbig entlarvt die Behauptung, schreiben zu müssen, als große Lebenslüge: „Die Dämonie dieser Lüge war ihm plötzlich einsehbar –wenn auch erst mit Beginn seiner Vergreisung –, sie war ihm durchsichtig geworden, als er scheinbar nicht mehr konnte. Er dachte es, aber er sprach es nicht aus, er war zu feige, es einzugestehen; er sah, wenn er nach innen blickte, in eine erbarmungslose Leere, aus der ihm keinerlei Resonanz widerfuhr.” Von der „Totenstille in seinem Gehirn”, die ihn „vollkommen beherrschte”, ist da die Rede, bevor der Text – für Hilbig untypisch – mit einer äußeren Katastrophe der Weltpolitik endet.
Am 11. September 2001 sah er im Fernsehen die Bilder der zusammenbrechenden Hochhäuser in New York und empfand das als eine so „gewaltige Maulschelle”, dass ihm „die Sprache ohne Rest in den Hals zurück, bis in die Gedärme zurückgeschlagen war, wo sie sich aufgelöst hatte, wo sie zerfallen war, zu nichts als einem unartikulierten Gurgeln oder Krächzen, und dies – dieseVorahnung kam ihm schon kurze Zeit später, und dies vielleicht für immer”. Wodin hatte in seinen letzten Jahren keinen Kontakt mehr zu ihm. In „Nachtgeschwister” schreibt sie: „Es erschien kein Buch mehr von ihm, er tauchte nirgends mehr auf im Literaturbetrieb. Alles, was mich noch von ihm erreichte, war eine unheimliche Stille, die ich nicht zu deuten wusste.”
Was hat sie an diesem untergangssüchtigen Menschen so fasziniert? War es tatsächlich das Gefühl, dass es „zum ersten Mal jemanden gab, mit dem ich die Unzugehörigkeit zu den anderen teilte?” Dass da einer aus dem Osten kam wie sie? Wodin wurde 1945 in Fürth als Tochter ukrainischer Zwangsarbeiter geboren. Sie wuchs in Nürnberg auf und war doch immer „die Russin” – und das in den fünfziger Jahren, mitten im Kalten Krieg. Als sie zehn Jahre alt war, tötete ihre Mutter sich selbst. Ihr Vater war unberechenbar und gewalttätig. Seine zuschlagende Faust ist ihre deutlichste Erinnerung an ihn. Über ihre traumatische Kindheit hat sie immer wieder geschrieben – auch darüber, wie ihre Mutter in einer Oktobernacht ins Wasser der Regnitz ging, und die Tochter versuchte, sie mit einer an ihr Bein gebundenen Schnur zurückzuhalten. Aber wahrscheinlich ist ja auch diese Schnur eine literarische Erfindung.
In Hilbigs „Provisorium” gehört diese Geschichte zum Lebenslauf der Hedda Rast. Doch für ihn, den Dichter der Asche- und Schlammhalden, der Kohle und der Öfen,war sie nicht „die Russin”, sondern „die Westlerin”. „Ihr Westmenschen, sagte er, ihr Herrenmenschen. Für euch bin ich doch Ungeziefer, ich bin der Rotz an deinem Ärmel”, lässt Wodin Jakob Stumm sagen. Die eigentümliche Ost-West-Verdrehung gehört zu dieser Beziehung dazu. Für Hilbig kam nur eine Frau aus dem Osten als Vertraute infrage – noch besser eine, die ihm als Westlerin überlegen war, damit er sich neben ihr klein machen konnte.
Im „Provisorium” gelangte er deshalb auch nicht über das Jahr 1989 hinaus, in dem diese Ordnung zusammenbrach – anders als Wodin, die in „Nachtgeschwister” die Geschichte bis in die Gegenwart verlängert. Über den 9. November schreibt sie: „Jakob war verwirrt, er zitterte, er weinte, er lachte. Was sollte jetzt aus ihm werden? Das Land der Lebensvernichtung, wie er es nannte, war sein Leben, es war sein Nährboden, seine Quelle, sein ganzer poetischer Kosmos, der einzige und ausschließliche Gegenstand seines Schreibens, der von einer Stunde zur nächsten aus der äußeren Welt verschwunden war.” Und ähnlich ging es ihr selbst: „Mit dem Fall der Mauer war für mich das letzte Stück jener Grenze verschwunden, die durch mein ganzes Leben verlaufen war, durch meine Gedanken, meine Gefühle, durch meine Nerven und Zellen, eine Grenze, die, ohne dass ich es bemerkt hatte, meine Identität geworden war, so etwas wie meine Heimat.”
Der Mann, der im Dunkeln bleiben musste
Selbsterniedrigung war Hilbigs Überlebensmethode. Seine Größe demonstrierte er in der Literatur, doch im Leben sah er sich als impotenten Versager. „Er war durchaus eitel”, sagt Wodin, doch die Eitelkeit betraf nur die Literatur. Und je besser er darin wurde, sich selbst in seinen Texten in den Dreck hinunterzuschreiben, umso größer wurde er als Autor. Er musste sich als Mensch vernichten, um als Schriftsteller zu glänzen. Eine Frau an seiner Seite, die behauptete, ihn zu lieben und die sich für den ganzen Menschen interessierte, musste ihm folglich als Bedrohung erscheinen. „Du führst schon lange ein Doppelleben”, sagt die Frau in Hilbigs „Der dunkle Mann” und bricht darüber, dass sie sich gerade davon angezogen gefühlt hat, in Tränen aus. Eine gewisse Häme ist zu spüren, wenn Hilbig sie sagen lässt: „An der Aufklärung deiner Finsternis muss man zwangsläufig scheitern!”
„Du bist meine Literaturverhindererin”, schimpft Jakob Stumm in den „Nachtgeschwistern” und sitzt doch Nacht für Nacht am Küchentisch, trinkt und raucht und schreibt, als fließe alles nur so durch ihn hindurch. „Er schrieb wie im Schlaf”, heißt es da, „und wäre er aufgewacht, hätte er kein einziges Wort mehr aufs Papier gebracht.” Im Gespräch sagt Wodin: „Ich hatte immer das Gefühl, dass er in so einer Bewegung ist, kurz vor dem Erwachen, aber er kann nicht. Beim Schreiben sah ich ihn oft dasitzen als jemanden, der darum kämpft, an die Oberfläche zu kommen – aber er konnte nicht. Er musste im Dunklen bleiben.”
Wenn er dann aber nach durchwachter Nacht einschlief, dann schlief er wie ein Toter. Der Körper forderte seinen Tribut. Und es war Wodins Aufgabe, den laut Schnarchenden gegen Abend zu wecken, indem sie ihn mit aller Kraft schüttelte. Auch aus dem Schlaf gab es kein Entkommen mehr, und so ist der Vorgang des Erwachens ein dramatischer Moment, wie jeder Augenblick in diesem Leben. Wodin beschreibt das so: „Langsam, mit verständnislosem Blick tauchte er auf wie aus einem Stollen, in dem er verschüttet war, manchmal sah er mich mit dem jähem Entsetzen eines Menschen an, der ermordet werden sollte.” Es folgen Hustenanfall, Zigarette, Sturz auf den Boden, wo er gekrümmt liegen bleibt (mit der brennenden Zigarette zwischen den Fingern), wortloses Aufrichten – und dann der Gang zum Schreibtisch.
Die Literatur war ihre Gemeinsamkeit. Als Schreibende fanden sie zueinander. Doch so wie Hilbig im Schlaf zu schreiben schien, so schwer wurde es Natascha Wodin. Um sich von ihm zu trennen, musste sie ihre Übereinkunft kündigen und mit dem Schreiben aufhören. Für etliche Jahre lebte sie allein von Übersetzungen aus dem Russischen. Mit „Nachtgeschwister” hat sie nun in die Literatur zurückgefunden. In eine neue, ganz und gar literarische Gemeinschaft mit Wolfgang Hilbig. „Vielleicht hat er mich für immer sprachlos gemacht”, heißt es am Ende dieses, ja, Liebes-Romans. Das wäre, wenn es denn stimmt, die letzte, äußerste Gemeinsamkeit. Die Sprache, die Wodin in diesem Roman gefunden hat, spricht allerdings dagegen.
Text: Jörg Magenau
zuerst erschienen: Ausgabe 06/09 – Literaturen – Literatur
Nachtgeschwister (Natascha Wodin)
bei amazon kaufen
- Sibylle Lewitscharoff: Das Pfingstwunder - 6. September 2016
- Elias Canetti: Das Buch gegen den Tod - 25. Dezember 2014
- Ernst Jünger: Feldpostbriefe an die Familie 1915-1918 - 9. November 2014
Schreibe einen Kommentar