Schweigen erfordert Charakter

Bisher kennt man Juan Gabriel Vásquez eher als Übersetzer und Essayist denn als Autor. Das wird sich nun ändern. Sein erster Roman „Die Informanten“ beschäftigt sich mit einem dunklen Kapitel der kolumbianischen Geschichte.

Wo man auch hinkommt auf der Welt – überall wird man mit der deutschen Geschichte konfrontiert. Der Nationalsozialismus strahlte noch auf die entferntesten Regionen aus und hat dort Biografien durcheinandergewirbelt – mit Folgen bis in die Gegenwart.

Das gilt auch für Kolumbien, ein Land, das wie viele Länder Lateinamerikas Ziel deutscher Exilanten gewesen ist. Geflohene Kommunisten und Juden trafen dort auf alteingesessene deutsche Auswanderer, die treue Anhänger des untergegangenen Kaiserreiches oder auch handfeste Nazis waren. Kolumbien versuchte diese explosive Mischung ab 1941 auf Druck der USA zu entschärfen und führte eine „schwarze Liste“ ein. Wer darauf stand, verlor seine bürgerlichen Rechte und auch die Möglichkeit, wirtschaftlich tätig zu sein. Doch nicht nur Nazis – die zum Teil durchaus zu Recht der Propaganda verdächtig waren – landeten auf dieser Liste, sondern auch Antifaschisten, die Opfer einer Denunziation wurden. Ein deutscher Name reichte aus, um verdächtig zu sein: Die kolumbianische Gesellschaft konnte endlich all die störenden Fremden loswerden. Sie wurden interniert wie Kriegsgefangene, wenn auch unter relativ luxuriösen Bedingungen als Hotelgäste in einer kleinen Provinzstadt.

Mit diesem eher dunklen Kapitel der kolumbianischen Geschichte befasst sich der 1973 in Bogotá geborene Juan Gabriel Vásquez in seinem ersten Roman. Vásquez, zuvor vor allem als Übersetzer und Essayist hervorgetreten, lebt in Barcelona, hat also genügend Abstand zu seinem Heimatland, um sich auf dieses schwierige Thema einzulassen. „Die Informanten“ ist ein komplexer Roman, der von Schuld und Verrat, von Fremdheit und Zugehörigkeit und vom Verhältnis der Söhne zu ihren Vätern handelt. Auf raffinierte Weise stellt Vásquez die Geschichtsschreibung, die er betreibt, auch wieder infrage: Die Geschichte, die er Stück für Stück enthüllt, verändert sich mit jeder neuen Information, mit jeder neuen Perspektive, und führt nie zu einem sauberen Ende oder einer endgültigen Wahrheit. Geschichte ist genau dieser Prozess des fortgesetzten Weiterschreibens und Umschreibens.

Im Mittelpunkt steht als Ich-Erzähler der Journalist Gabriel Santoro, der genauso heißt wie sein Vater Gabriel Santoro senior, ein renommierter und hoch angesehener Rhetorik-Professor. Santoro junior hat ein Buch über eine alte jüdische Familienfreundin und ihre Geschichte publiziert, das er auch seinem Vater schickte. Doch statt Anerkennung erntet er von ihm nur Schweigen und kurz darauf einen vernichtenden Verriss in einer Zeitung. Für mehrere Jahre bricht der Kontakt zwischen ihnen ab – bis der Vater, dem eine Herzoperation bevorsteht, den Sohn anruft und ihn zu sich zitiert, zur Versöhnung und zur Pflege gleichermaßen. Angesichts des drohenden Todes will er mit sich ins Reine kommen – doch sein Geheimnis und die Lebenslüge, dass er einst einen Freund verraten hat, dessen Vater dann auf die schwarze Liste kam und sich schließlich das Leben nahm, offenbart er nicht. Das kommt erst nach seinem Tod ans Licht und wird von der skandalsüchtigen Öffentlichkeit dann auch genüsslich ausgeschlachtet.

Dass Vásquez all dies miterzählt, ist der eigentliche Clou des Romans. Der Biografienschreiber muss sich von seinem Vater belehren lassen, dass Schweigen durchaus „nicht angenehm“ sei und „Charakter“ erfordere. Doch die Arbeit des Schreibens bringt es mit sich, Informationen aufspüren und veröffentlichen zu wollen. Schließlich begeht auch der Sohn einen Verrat, um das Buch, das er über seinen Vater schreibt, mit den nötigen Dokumenten auszustatten, die er sich in einer merkwürdigen Gier aneignet. Am Ende ist er nicht nur ein „Schmarotzer“ am fremden Lebensstoff, den er ja risikolos ausbreiten kann, sondern er muss sich auch fragen, ob er nicht selbst ein „Informant“ ist, der über das Leben eines anderen Mitteilungen macht: Ob man beim Geheimdienst denunziert oder die Öffentlichkeit füttert – ist das ein so großer Unterschied? Trotz aller Annäherungen an die historische „Wahrheit“ bleibt das Zentrum des Geschehens davon unberührt: Was den Vater zu seinem Verrat getrieben hat, ob und wie er davon profitierte, kann auch der Sohn nicht erklären. Die Wahrheit ist etwas, das letztlich jeder Leser für sich selbst herstellen muss.


Text: Jörg Magenau

aus: Radiofeuilleton, Kritik, © 2010 Deutschlandradio, (23.06.2010)



Juan Gabriel Vásquez: Die Informanten.

Aus dem Spanischen von Susanne Lange,

Schöffling & Co, Frankfurt/Main 2010, 380 S., 22,90 Euro


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