Sittichzungen, Haifischlippen oder die zarten Spitzen der Stutenzitze
Wie heißt das Land, in dem auf Zigarettenschachteln steht: „Rauchen verursacht Traurigkeit“? Der Text eines Schlagers lautet dort: „Am Morgen fröstelts mich im Traum auf meiner Bambusmatte“, und zum Essen werden marinierte Sittichzungen, Haifischlippen oder die zarten Spitzen von der Stutenzitze serviert. Will man so leben? In Jörg-Uwe Albigs neuem Roman gibt es das alles in einem zukünftigen China des Jahres 2032. 24 Jahre ist es her, dass mit den olympischen Spielen in Peking der „Zweite große Sprung“ begann, der, so ist zu ahnen, China an die Spitze der Weltmächte katapultierte und seine Bevölkerung zu wohlhabenden und von der eigenen Dekadenz auch schon wieder gelangweilten Menschen machte. 24jährige Mädchen tragen folglich vorzugsweise den Namen „Olympia“, und Mao ist nur noch eine ferne Erinnerung. Der Satz: „Er war ein großer Poet aber ein miserabler Staatsmann“, zieht sich als running gag durchs ganze Buch. Mehr Sozialismus ist nicht. Für die Drecksarbeit und für körperliche Arbeit überhaupt sind die Ausländer zuständig, die eines Tages plötzlich in Massen da gewesen sind, Deutsche vor allem, haarige, semmelblonde Wesen mit runden Augen und peinigendem Körpergeruch. Sie wohnen in den Abrissvierteln der sogenannten „Schwalbenstadt“ in ihrer eigenen, schmutzigen Welt, die von den Einheimischen besser nicht betreten wird.
Albig benutzt die gängigen Klischees, um daraus eine spiegelverkehrte Welt zu bauen – oder vielleicht auch nur die Ängste von der chinesischen Dominanz und dem europäischen Niedergang einmal satirisch durchzuspielen. Das Fremde im Eigenen, das Eigene als Fremdes – das hat immer seinen Reiz und seinen Erkenntniswert. China regt ja überhaupt die Phantasie gehörig an; zuletzt war es Tilman Rammstedt, der mit „Der Kaiser von China“ einen China-Roman schrieb, ohne das Land jemals besucht zu haben. Die Vorstellungen, die wir von China haben, sind so ausgeprägt, dass sie ausreichen, um daraus ein durchaus realistisches Szenario zu entwickeln. Albig hat sich zudem auf erzählerische Spiegelwelten spezialisiert: Sein voriger Roman „Land voller Liebe“ drehte die deutsch-deutschen Verhältnis um und spielte den Anschluss der Bundesrepublik an die siegreiche DDR durch.
Die chinesische Geschichte, die er nun erzählt, ist simpel und dient vor allem dazu, seinen Phantasieapparat in Bewegung zu versetzen. Der junge Werbefilmer Li „Eisenstein“ Ai soll die Kampagne für ein neues Parfum der Marke „Wald“ in Bilder umsetzen. Ein deutsches Märchenbuch fällt ihm in die Hände, auf dem ein Junge und ein Mädchen zu sehen sind, die sich im Wald verirrt haben. Das Bild erscheint ihm so geheimnisvoll, dass er es umsetzen möchte und das Mädchen mit der jungen Chinesin Olympia besetzt, die er liebt, die ihn aber nicht wirklich zur Kenntnis nehmen will. Sie ist eine Prostituierte, eine Betrügerin, eine Traumtänzerin, der nicht nahe zu kommen ist. „Berlin Palace“ ist also auch ein verzweifelt melancholischer Liebesroman über die Vergeblichkeit, die doch in allen Kulturen die selbe ist.
Albigs Trick und seine große Kunst bestehen darin, dass er mit Li einen Chinesen als Ich-Erzähler etabliert, den er nun der deutschen Kultur begegnen lässt – oder vielmehr dem, was Li dafür hält. In einem Folklore-Club, lernt er einen blonden, haarigen Mann kennen, der sich Siggi nennt. Früher war er mal Gangsta-Rapper. Nun demütigt er sich, indem er zur Klampfe grauenvolles Liedgut über Haselnuss, Enzian und gelben Wagen zum besten gibt, um die Chinesen mit etwas Authentischem zu begeistern. Für Li sind das staunenswerte „Akkorde in wuchtigen Rhythmen, als wolle er sie in den Boden rammen.“ Siggi bringt die chinesischen Gäste dann auch in eine deutsche Kneipe namens „Berlin Palace“, wo die Deutschen Bier, die Chinesen aber echtes Met trinken, und Li betrachtet versonnen die gewaltigen Zähne der Europäer, die ihn an die prähistorischen Hauer an Skeletten aus dem Naturkundemuseum erinnern. Germanien, so weiß er, ist ein Land der Ehrenmorde, wo Frauen heilig sind und als Seherinnen verehrt werden. Dort leben Menschen von natürlicher Vitalität, die nach Pilzen und Dung riechen. Er muss also vorsichtig sein.
Der Roman lebt weniger von Handlung und Spannung, als von den Einfällen des Autors und seiner erfrischenden Formulierungskunst. Da gibt es „Tränensäcke, prall von Erfahrung“, Nasen, die aussehen wie Baumpilze oder so wie ein Chinese des Jahres 2032 sich einen Donnerkeil vorstellt. Die Armut der Migranten in der Schwalbenstadt hat zur Folge, dass ihnen „ihre Kultur auf den Leibern verwittert wie die Kleidung“. Kann man das präziser formulieren? „Berlin Palace“ ist eine bissige Satire, die schwungvoll jede Leitkulturarroganz auf die Hörner nimmt und elegant mit grassierenden Chinaängsten und -phantasien zu spielen weiß: ein intelligentes, funkelndes, witziges Lesevergnügen.
Text: Jörg Magenau
Text erschienen in Süddeutsche Zeitung, 05.05.2010
Jörg-Uwe Albig: Berlin Palace
Roman, Klett-Cotta, Stuttgart 2010,
224 Seiten, 19,90 Euro
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