ach, sandra,

wir wissen seit so vielen jahrzehnten, was los ist, wir wissen auch, daß kein reden hilft und kein demonstrieren, es geht, ganz grob und grundsätzlich darum, was sehr einfaches zu begreifen: ein system (wie der kapitalismus, wie der damit einhergehende aktienmarkt) das von hunger, elend, kriegen profitiert, wird einen scheiß tun, um hunger, elend, kriege zu bekämpfen. wer gräbt sich schon selbst das wasser ab. dazu noch ein satz von malkovich: nur die bösen („bad people“ hat er, glaub ich, gesagt) streben nach macht. punkt. wie sinnvoll ist es also, freitags auf die straße zu rennen und schilder hochzuhalten, auf denen „there is no planet b“ steht: nach so einem sind die, die es können, längst unterwegs. man sollte all die unbelehrbar und bis zur blödheit naiven zum lesen von sibylle bergs neuem buch ‚rce‘ verdonnern, „roman“ hat sie das dicke rosafarbene ding genannt: in wirklichkeit hat sie informationen zusammengetragen über den zustand der welt, forschungsergebnisse von „weit über 100″ wissenschaftlern, mit denen sie gesprochen hat, blanke fakten zu themen wie überwachung, solutionismus, korruption, totalitarismus, soziale medien als „massenablenkungswaffen“ (bzw. „hirnvernichtungswaffen“), gesundheitspolitik, lobbyismus, cyberspace, geoengeneering, philantro-kapitalismus à la bill gates, transhumanismus, greenwashing (ah, da nennt sie als hübsches beispiel das „weltgrößte biomassekraftwerk“ in yorkshire, das mit 20,8 millionen tonnen mehr co2 in die luft jagt als 103 andere nationen: „und darum bis 2027 mit 13 milliarden pfund „gefördert wird“. der witz ist noch nicht zu ende: um es zu befeuern, wird in estland – in dem von der eu subventionierten naturschutzgebiet haanja – massenhaft wald für die pelletherstellung abgeholzt), sie schreibt über die „soliden öffentlichen medien“, die „nur noch zur hysterie-erzeugung“ eingesetzt werden, schreibt über die mittlerweile umgedrehten antifaschisten, die zu staatshörigen idioten verkommen sind und „die politik der nationalbanken“ feiern. und berg nennt, ohne in diesem zusammenhang das wort verbrecher zu benutzen, roß und reiter, sagt blackrock, sagt osze, sagt aldi, musk, dyson, amazon, netflix, google, peter thiel, sie muß nicht verbrecher sagen: man erkennt das übel, wenn man liest, was solche organisationen, solche leute tun. ein eklatant wichtiges buch, keine literatur: eher ein koffer voller radikaler wahrheiten, die so oder ähnlich zwar jedem bekannt sind, der noch halbwegs denken kann, aber nicht in dieser ungeheuren vielzahl von konkreten einzelheiten. („ich bin dir sehr dankbar“, hat eine freundin gestern zu mir gesagt, „daß du mir zu diesem buch geraten hast.“ ja, es gibt einem waffen in die hand.)

man kanns auch mit trinken versuchen, ein glas rotwein am abend: und das schreckliche verschiebt sich ins leicht absurde, wo es weniger schaden anrichtet. oder man nimmt nach der berg ‚die erfundene frau‘ von daniel wisser zu sich: so wahllos viel alkohol war selten zwischen zwei buchdeckeln, allein vom lesen steigt der promillespiegel im blut von all dem wein, whiskey, eierlikör, bier in dosen, bier in flaschen, schnaps, wodka, campari, champagner, frizzante, wermut, marillenbrand, pernod, rosé, wein (château dauzac, die flasche zu 190 euro), heurigen, aperitivo und prosecco (vor jahren, jahrzehnten hat mich der wirt vom ‚aufschwung‘ in frankfurt verächtlich auf das minderwertige dieses getränks hingewiesen, trink lieber sekt, sagte er, der ist ehrlicher, der hat von natur aus kohlensäure, prosecco wird künstlich damit aufgeblasen). sie trinken viel prosecco, die frauen in diesen erzählungen: „der prosecco gab ihr kraft.“ steht auf seite 19. „der prosecco gab ihr kraft.“ steht auf seite 35. und dabei geht es gar nicht ums trinken, es ist halt was, mit dem sich der text wieder eine zeile weiter bewegt. und die frauen, wenn sie nicht trinken, reden mit ihrem neuen über ihren alten mann, sie finden geld auf der straße, stören sich an offen stehenden türen und schubladen, machen urlaub in venedig, vietnam, paris, am attersee, in ghana, ägypten, japan und in den österreichischen bergen. und sie erbrechen sich oft (vielleicht hatte der wirt vom ‚aufschwung‘ recht, und sie hätten nicht so viel prosecco trinken sollen). aber es gibt auch recht vergnügliches, die stelle mit dem schoßndchen von frau ilse. pacer heißt der „reinrassige malteser“: wie elvis presley in ‚flaming star‘, und weil pacer während frau ilses versuch, eine handtasche zu kaufen, im laden von louis vuitton sang- und klanglos verendet, wird er in einer der firmeneigenen tragetüten ins gegenüberliegende ’schwarze kameel‘ (bißchen werbung schadet nie, geht möglicherweise als detailgenauigkeit durch) geschleppt, wo sich frau ilse an besagtem prosecco stärkt. und weil sich das mit der stärkung auf mehrere gläser erstreckt und dauert, ist die louis vouitton-tragetüte am ende verschwunden. geht alles ganz kurzangebunden vonstatten, stakkatoschritt, als versuchten die sätze, den erzählungen möglichst schnell zu entkommen.

dabei hab ich eine ausgesprochene vorliebe für kurzgeschichten, vorzugsweise für englische, amerikanische, kanadische, die transatlantiker sind darin einfach versierter. hierzulande grassiert das umständliche, das zu ausgesprochene, brav formulierte, lang und breit erklärende (ist auch wirklich jeder mitgekommen?): und dann kommt helene hegemann und sagt: ich zeigs euch. und leider ist das das problem: absichtserklärung, attitüde. sie haut nicht auf den putz, sie sagt: seht her, ich hau auf den putz. sie gefällt sich im fluchen, sie schreit scheiße und arschloch wie jemand, der die muskeln spielen läßt, die er nicht hat. sie erschafft und vernichtet in einem, schnippt die sätze vom finger wie etwas, was sie vorher aus der nase oder sonst einer körperöffnung gegraben hat. das häßliche, das zerstörte ist ihr das wahre: also sind die leute kaputt, zwangsstörungen, ausgeweidete giraffen, panickattacken, maden, folterungen: alles im dutzend billiger, gruppenvergewaltigung: auch so ein wort, das ihr gefällt. ziemlich viel schräges, sie bescheinigt sich eine schwer zu kontrollierende vorstellungskraft: und beanstandet dann wieder, engstirnig wie ein verbeamteter lehrer, an den hervorbringungen dieser vorstellungskraft herum, die größtenteils aus der bierdose stammt: warum, sagt sie in einem interview, soll ich das trinken einschränken, dann versiegen die ja die einfälle. und klar, sind ihre bilder oft aufsehenerregend schrill: aber mehr als das schrille kommt ihr stolz darauf zum vorschein (den ich nicht verstehe: wenn es das bier ist, das die bilder blühen läßt: worauf ist sie dann stolz? auf ihren alkoholkonsum?). sie setzt zu sehr auf das bizarre, alles ein wenig zu künstlich, zu absichtsvoll, zu ausgesucht anders (ihre figuren müssen indigo heißen, phoebe, minute, tschlix, safran, iskender, abdellativ, aber irgendwie muß auch sowas wie normalität her, also gibts daneben einen bill, eine esther, einen helmut, eine eva, einen oliver). „jetzt ist aber mal gut“, sagt die, die sie indigo nennt: und das möchte man öfter mal zu hegemann sagen, jetzt ist aber mal gut mit dem so tun als ob, mit der kraftmeierei, sie könnte es anders, aber da ist diese furcht, bloß nicht zu poetisch, bloß nicht zu verletzlich zu sein. alles in allem der eher kindliche versuch, mit sich und der welt irgendwie klarzukommen. und mit den blessuren, die sie sich dabei holt. mir fällt, nicht in diesem zusammenhang, aber trotzdem jetzt, jener dichter ein, der davon geschrieben hat, „den letzten rest wildnis aus dem winkel“ zu kratzen: und seine frau dachte, es ginge ums hintern abwischen. lang waren die beiden dann nicht mehr zusammen.

seit ‚physik der schwermutsehne ich jedes neue buch von gospodinov herbei, er schreibt bücher, in denen man ertrinkt, ertrinken will, untergehen, ganz gleich, wovon er erzählt, wörterrausch, tiefenrausch, dann hat gospodinov, nach einem grandiosen erzählband (wie ’schwermut‘ bei droschl), den verlag gewechselt: der anfang von ‚zeitflucht‘ hat erneut etwas von der magie, mit der gospodinov bilder und blaue wunder aus dem hut zaubert, die sich in erkennisse verwandeln, und dann folgt ein satz wie ein fanfarenstoß, der nicht den clown in die manege holt sondern den schock. die ankündigung zukünftigter katastrophen, die längst geschehen sind. gospodinov jongliert mit der zeit, immer schon, diesmal erhebt er sie zum thema: vielleicht liegt es daran, vielleicht wäre sie besser spielerisches element geblieben, flirrendes licht, das dazu beiträgt (zur szenerie, zur erzählweise, zur atmosphäre), anstatt selbst zu tragen. die idee, alte menschen in jenen teil der vergangenheit zurückkehren zu lassen, in der sie noch wußten, wer sie waren, und ihr verstand sich noch nicht als falschspieler betätigte, der ihnen vertrautes vorenthielt und fremdes unterschob, die idee, aus der gaustín ein geschäftsmodell macht, jener gaustín, den der vom autor erschaffene erzähler seinerseits erfindet, möglicherweise ist es auch umgekehrt: bei gospodinov weiß man nie, wer hinter dem spiegel steckt und ob davor überhaupt jemand steht. gaustíns idee jedenfalls greift um sich, greift auf länder über, auf nationen: warum in der gegenwart leben, in der die katastrophe so dicht vor der tür steht, daß man ihr keuchen hört, wenn man bloß paar dekaden zurückweichen muß, um den abstand zum ende zu vergrößern. galgenfrist, galgenhumor. aber eben: die idee. zu deutlich, zu spürbar, als idee zu anwesend, als konstruktion, und nicht, wie gospodinov es sonst tut, mit flügelschlägen umgesetzt: das hier ist, als blicke man einer tänzerin unter den hochfliegenden rock: und da ist kein fleisch und blut sondern mechanisches räderwerk. und ich würds trotzdem empfehlen, ist eben ein gospodinov, politischer diesmal, weniger zaubrisch, bis auf den anfang (in dem „die sonne in den vitrinen des cafés und der uhr eingedöst“ ist), bis auf das ende. die zwei zeilen rätselhafter zeichen, die ein kind auf seite 51 so blindlings in die schreibmaschine haut, „womöglich ein code, den wir nie entziffern werden“, beschließen auf seite 339 kommentarlos den roman.

und wegen der documenta: komm, wann du willst, sandra: ich sitz hier eh erstmal fest, aber komm nicht wegen der documenta, lohnt nicht, komm lieber wegen der baked rolls beim koreaner und der gespräche unter den platanen, komm auf einen wein hinten im garten und möglicherweise einen spaziergang im bergpark, abseits der breiten wege.

alles liebe bis dahin

ingrid

 

© 2022 ingrid mylo

alle Cover © Verlag

Bild ganz oben: screenshot Cover (Ausschnitt) Sibylle Berg: RCE  | Kiepenheuer & Witsch

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