BÜCHERBRIEF AN UWE
lieber uwe,
klar, hab ich’s mit der elf: sie ist die einzige zahl, die gleichzeitig ein wesen benennt, noch dazu eins, das entfernt zu tun hat mit märchen und zauberei. weißt du nicht mehr: meine monatlichen kaffeeblüten vor zig jahren im frankfurter „strandgut“: immer elf, und eine davon jeweils zitate, fremde sätze, in denen die elf vorkam: simenon war ein guter lieferant. meist ist die elf bei ihm die zeit, zu der jemand noch im bett liegt, oder unbedingt in die bar lorrain gehen muß, oder mit einem kaffee in der hand die strafanstalt von melun verläßt, oder im gang des zuges nach nevers die stirn gegen die fensterscheibe lehnt, oder zu der zwei einzelgänger zusammentreffen. oder jemand war elf jahre alt, als er mit dem traktor durch die felder fahren durfte. keine ahnung, warum simenon so zuverlässig oft zur elf gegriffen hat, vielleicht, weil er laut eigener auskunft für die niederschrift eines romans elf tage brauchte. bei haruki murakami findet man sie auch, die elf, da sind sie seit elf jahren verheiratet, sprechen elf tage lang, „abgesehen von der belanglosen unterhaltung mit der gut angezogenen frau“, mit niemanden ein wort, bevor am elften tag „etwas sehr seltsames“ geschieht. um elf arbeiten sie wie verrückt oder haben nichts zu tun oder hängen ihren träumen nach oder löschen das licht. oder ihnen gehen gegen elf die gedanken aus. hat man sie einmal in die wahrnehmung gelassen, ist die elf überall: vermeer hatte elf kinder, james joyce mußte sich im laufe seines lebens elf augenoperationen unterziehen, mata hari wurde bei ihrer hinrichtung von elf kugeln der auf sie abgefeuerten salve getroffen, die buddhistische göttin der barmherzigkeit, kannon, hat elf köpfe, peter ustinov wog bei seiner geburt elf pfund, donald e. westlake hat unter elf pseudonymen geschrieben, hernán cortés ist 1519 mit elf schiffen von kuba nach mexiko gesegelt, die er nach der gründung von vera cruz alle elf hinter sich verbrannt hat, die bucht von havanna ist elf kilometer lang, samuel beckett hat 1936 (von anfang oktober bis anfang dezember) elf mal die kunsthalle in hamburg besucht, die quersumme der kosmischen zahl 137 (was immer das heißt) ergibt elf, ein japanischer origami-kranich benötigt zu seiner vollendung elf faltungen, der durchschnittliche museumsbesucher verbringt (nach einer studie des kulturwissenschaftlers martin tröndle) durchschnittlich elf sekunden vor einem kunstwerk, der ehrenkodex der samurai, hagakure, umfaßt elf bände. und lars gustafsson: nach einem augenblick der stille, des glücks, der erkenntnis heißt es in „herr gustafsson persönlich“: „da schlugen alle uhren elf“. gustafsson, den mir schon ende der siebziger ein freund ans herz legte: aber gut ding will … du weißt. 1984 hab ich mir endlich einen seiner romane gegriffen, „trauermusik“, der titel entsprach meiner damaligen stimmung: und doch lag das buch erstmal monat um monat bei mir, ungelesen, fast ein jahr, bis nach einem liederabend von georgette dee im tat-café ein unbekannter am tisch (ein schauspieler, wie sich nach paar sätzen erwies, manchmal fällt mir sein name noch ein, im moment nicht, der vorname war, glaube ich, matthias) die bescheuerte bemerkung machte: „so, wie du redest, und mit deinen händen dazu, mußt du ein fan von lars gustafsson sein“, und spät in derselben nacht hab ich mich endlich über den roman hergemacht, „zeit ist vor allem für jene, die noch hoffen“, steht auf seinem rücken: es war der 17. mai. lars gustafssons geburtstag. was ich damals nicht wußte: erst wochen danach erfuhr ich das datum aus einem seiner bücher, ich hab sie eins nach dem anderen gelesen, auch die, die es nicht mehr gab (aber bei einem ständig vor sich hinsummenden buchhändler im bornwiesenweg eben doch): „eine insel in der nähe von magora“, „der eigentliche bericht über herrn arenander“. über ihn zu schreiben, hat die lust, ihn zu lesen, nochmal vertieft: nur, blöd genug, hat jetzt jemand ausgerechnet bei seinem nachgelassenen gedichtband schneller gezogen, um einen verdammten tag: und meine rezension von gustafssons „etüden für eine alte schreibmaschine“ für die badische bleibt als fetzen und vorhaben im dachgebälk hängen. fledermäuse, die auf ihre nacht warten. die elf nennt er in diesen versen nicht, dafür die schatten sehr oft, wie auch die stille und die bäume und den nebel und den schnee. um wesentlich zu werden, kommt man mit nur wenigen wörtern aus, wenn man, wie gustafsson, weiß, wie man sie anzuordnen hat: so oft er auch vogel sagt (manchmal sind es krähen), und er sagt es sehr oft, aber in wechselnden gegenden und konstellationen: und was am ende aufleuchtet, ist immer etwas anderes: das empfinden von freiheit, eine frage, etwas wie trost. was auf diesen seiten steht, ist reine vergegenwärtigung. dingfestmachung. gustafsson nimmt wahr, was er sieht, was er hört, nimmt zu sich, was da ist, was da war: und es ist für ihn, das spürt man, so notwendig wie das atmen: so lange er es tut, gibt es ihn noch. darüber hinaus ist ein derart unbedingtes wahrnehmen, bzw das aussprechen des wahrgenommenen, natürlich ein schöpfungsakt, die aborigines (ja, chatwins „songline“‘) haben die dinge in die welt, ins leben gesungen: dann waren sie da. die 48 gedichte (das „leere haus“ heißt eins, darin einmal mehr sein wunsch: zu wissen, „wie mein zimmer aussieht // wenn ich es nicht sehe“) sind nachgelassene: gustafsson ist am 3. april 2016 gestorben, ein sonntag, dessen höchsttemperatur in västerås elf grad betrug. zumindest steht das (mit der temperatur) in ferdinand v. schirachs „kaffee und zigaretten“.
scheiße, das wird diesmal ein langer brief, uwe, und ich bin noch nicht mal bei der beantwortung deiner frage. die ich eh nicht beantworten kann. woher die bilder in meinem kopf kommen, wolltest du wissen: und früher hätte ich einfach mit den schultern gezuckt. ist eben so. warum sehen die einen eine wand, die anderen eine erzählung aus kreidestaub und asche. na ja, und dann die jahre und die bücher und unter ihnen die „zitternde frau“ von siri hustvedt: da ist von spiegelneuronen die rede, vom stendhal-syndrom (eine merkwürdige bezeichnung: den namensgebenden zustand erlebte der schriftsteller 1817 in florenz: da nannte er sich noch gar nicht stendhal, sondern trug seinen bürgerlichen namen marie-henri beyle), von unsachgemäß miteinander kommunizierenden hirnarealen, von synästhesien. mit alldem kann es was zu tun haben. oder nicht. und, ganz aktuell, wird das, was im hirn dem „ich“ am nächsten kommt, inzwischen als default mode network bezeichnet: erst im erwachsenenalter ist das zeug voll entwickelt und soll dafür sorgen, daß die verschiedenen sinne hübsch ordentlich voneinander getrennt agieren: nicht, daß die akustischen zellen den optischen ins wort fallen oder denen, die für den geruch verantwortlich sind: sonst kommt es zu eben diesen synästhesien (was im kindesalter gang und gäbe ist). und zu den entsprechenden bildern. übrigens ist schirach auch einer, der diese „falsch“ gekoppelten wahrnehmungen in „kaffee und zigaretten“ für sich reklamiert: er verzichtet allerdings auf jede noch so kleine kostprobe (vielleicht will er niemanden verwirren, er setzt auf die eineindeutigkeit, ist der begriff eigentlich noch im umlauf?). anders, ganz anders als clemens j. setz: sein erzählungsband „der trost runder dinge“ (schöner titel, oder?) tost vor verschrobenen sinnlichkeiten, vor sätzen, die die leute ins blaue hinein sagen: ohne anbindung oder ziel (das hat, hin und wieder, etwas befreiendes, eine öffnung ins ungewisse), vor labyrinthischen gedankengängen und im dunkeln leuchtenden assoziationen. aber das uferlos auffallende ist ein bißchen das problem: der maßstab fehlt. das streichholz, das die dimensionen verdeutlicht. die normalität als kontrast, das relativerend gewöhnliche. wenn alle verrückt sind, ist es keiner mehr. und als fürchte setz in seinem meer von merkwürdigkeiten zu ertrinken, läßt er darin immer wieder gewisse wörter treiben wie rettungsringe, an die er sich klammert: da sind, in großer häufung, spiegel und bäume und fahrräder, stühle und spinnen (die dann doch nicht da sind), leitern und seelen und krähen, bei deren anblick ihm „gütige gedanken“ kommen (güte ist auch so ein oft fallendes wort), kameras, sensen, getränkeautomaten, orangen, steckdosen und rötliche flecken, meist im gesicht.
und jetzt, glaub ich, ist es an der zeit, das hier abzubrechen, sonst geht das noch elf tage so weiter: wäre eh besser, sich mal wieder zu treffen, hier türmt sich die musik, die wir hören wollten, townes van zandt, steve young, guy clark …
sei, wie immer, umarmt
ingrid
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© 2019 ingrid mylo
Lars gustafsson: etüden für eine alte schreibmaschine
gedichte aus dem schwedischen von verena reichel
carl hanser verlag 2019 (77 seiten| € 18,-)
clemens s. setz: der trost runder dinge
erzählungen
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ferdinand von schirach: kaffee und zigaretten
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