C’est la vie – sagte der Tod
In Natalja Kljutscharowas Debütroman brodelt die Wut der Hoffnungslosen

Soll man sich wirklich von einem Roman Aufschluss über die Lebenswirklichkeit im heutigen Russland erhoffen? An Natalja Kljutscharowas Debüt Endstation Rußland schreckt eigentlich schon der Titel ab. Denn er kündigt einen Realismus an, der aller Fiktion nur schaden kann. Und setzt mit dem Wort „Endstation“ gleich noch ein weiteres Signal: Die Erwartung einer Saga von Abstieg, Desaster und Verfall.

In der Tat ist das Russland, von dem die 1981 in der Ural-Metropole Perm geborene Autorin in ihrem Buch erzählt, ein Land genau der extremen Klischees, die seit Jahr und Tag das hiesige Bild von Russland bestimmen. Nikita, der Held des Buches, ein junger Petersburger Student, der kreuz und quer durch das Land reist, trifft auf bitterste Armut in den abgehängten Provinzen, wo die Menschen in Löchern wohnen. In der Megametropole Moskau stellen die Reichen schamlos ihren Wohlstand aus.

Dazwischen streifen jede Menge Abgewrackte, Zukurzgekommene und Vergessene durchs Bild – der verarmte Veteran aus dem Großen Vaterländischen Krieg, der ergraute Komsomolze mit der kleinen Pioniertrommel oder die achtzigjährige Babuschka aus dem zerbombten Grosny, die auf ihre alten Tage noch in einem Hochhaus putzen muss.

So weit, so deprimierend die real existierende Tristesse. Doch daneben gibt es noch eine ganz andere Stimmung. In diesem Land brodelt die Wut. Es gärt an allen Ecken und Enden: sozial, politisch intellektuell. „Die Föderation liegt im Sterben. Das Imperium steht auf tönernen Füßen“, ruft ein rothaariger Dickwanst in Petersburg auf offener Straße. Ein Rentnerkreuzzug marschiert nach Moskau. Am Schluss weiß man aber nicht, ob die Revolution, auf die alle warten, aber keiner mehr recht glaubt, nicht doch nur ein schlechter Traum von Nikita ist.

Besonders die jungen Leute sind revolutionär gestimmt. Sie sympathisieren mit den Zarenattentätern und befassen sich mit Bombenbau. Notfalls arbeiten sie auch für den Geheimdienst FSB, wo sie nebenbei Slavoj Žižek übersetzen. Sie lesen aber auch den Nationalbolschewisten Eduard Limonow. So wie der Petersburger Universitätsdozent Roschtschin, der Sergej Eisenstein so verehrt wie Guy Debord und in Limonows Zeitschrift Limonka (Handgranate) Gedichte veröffentlicht. Seine Studenten versucht er zur Lektüre von Kafka und Camus zu bekehren. Die geistige Nahrung der jungen Intelligenz ist eine bizarre Ost-West-Fusion-Food. Aus der Küche der linksradikalen Genüsse ist von allem etwas dabei.

Auch Nikita aus Petersburg ist einer von diesen jungen Sozialrevolutionären. Der kaum zwanzig Jahre alte Student neigt zu Ohnmachtsanfällen und war mit Jasja zusammen, bevor sie einem Geschäftsmann in die Schweiz folgte. Weil er über ihren Verlust nicht hinwegkommt, hält es Nikita nirgends mehr lange. Deswegen lässt er sich bei seinen Reisen durch das ganze Land von wildfremden Menschen in der Eisenbahn ihr Leben erzählen.

Dass Nikita, ein „kleiner Bruder der Helden Dostojewskis“ sein, wie der Verlag behauptet, mag sein. Viel eher denkt man aber an eine Figur wie die des Feuerschluckers Alex aus Leo Carax‘ Film Die Liebenden von Pont Neuf und seiner amour fou mit der Offizierstochter Michèle. Denn zwischen seinen Reisen durch das aus den Fugen geratene Russland trifft Nikita Jasja immer wieder: Das Mädchen mit den grünen Haaren und dem langen schwarzen Mantel, das er eines Tages an der Petersburger Universität kennenlernte. Seitdem verzehrt er sich nach ihr.

Nichts kann Nikitas Liebe zu Sasja anhaben: Ob sie als Pornomodell arbeitet, einen Freund in Frankreich hat, oder ob sie revolutionäre Lyrik deklamiert. Doch wenn sie zusammen sind, ist alles wie früher: „Das Glück war wie die Schalen einer durchsichtigen Muschel, die hinter ihnen zuklappten, während sie sich, ineinander wachsend, irgendwo oben auf der Brücke küssten“.

An romantisch-surrealistischen Einsprengseln wie diesen sieht man schon: Endstation Rußland darf man sich nicht als „Sozialreportage“ vorstellen. Dazu sind viele Protagonisten karikaturhaft überzeichnet. Und Kljutscharjowa hat Erlebnisse, die Reporterkollegen von ihren Reisen mitbrachten, zu einem grellen Mosaik des Lebens im heutigen Russland montiert – mit lauter absurden, grotesken und traurigen Facetten.

„Endlich melden sich in Russland jene zu Wort, die in der neuen Zeit geboren und aufgewachsen sind – auf den schwelenden Trümmern der alten“, schreibt Swetlana Alexijewitsch in ihrem Nachwort zu dem Debüt der Autorin. Die hat nach ihrem Studium an der Pädagogischen Universität von Jaroslawl als TV-Nachrichtenredakteurin gearbeitet, ist heute Mitarbeiterin der Moskauer Zeitschrift Erster September und hat schon einen Lyrikband veröffentlicht.

Auf Russland blickt man hier mit Nikita durch die Augen einer Jugend, für die die Sowjetunion, Michail Gorbatschow oder Boris Jelzin fernste Vergangenheit sind, auch wenn ein paar ganz Coole unter ihnen „Meine Heimat ist die UdSSR“ rufen. Der bunte Strauß abstruser Existenzen, die die junge Autorin auffächert, vermittelt eine Ahnung davon, wie vielfältig das Russland von heute ist – und wie zersplittert.

Letzten Endes ist Nikitas Reise, die ihn mit so vielen unterschiedlichen Menschen konfrontiert, das Symbol einer typischen Identitätssuche in (den osteuropäischen) Transformationsgesellschaften. An ihrem Ende muss er sich eingestehen: „Das Wichtigste schaffte er nicht. Sie zu einem einheitlichen Ganzen zu verschmelzen. Alle russischen Geschichten zu einer, der großen Geschichte zusammenzufügen. Die letzte Anstrengung des Verallgemeinerns wollte ihm nicht gelingen. Menschliche Schicksale, Worte und Taten existierten autonom und selbstständig, stur verliefen sie in verschiedene Richtungen auseinander, und es gab darin keine gemeinsame Logik, nur Chaos und Eigensinn“.

Immerhin bekommt man eine Idee von der Mentalität: Alle diese Schicksale grundiert eine Geistesverfassung, die an die Bremer Stadtmusikanten erinnert. Die Mischung aus Chuzpe und Fatalismus, die sie sich angewöhnt haben, trifft am vielleicht besten ein Spruch des Petersburger Dozenten Roschtschin, der unter seinen Studenten Kultstatus genießt: „C’est la vie, sagte der Tod“.

Text: Ingo Arend

Text erschienen in freitag, 21.03.2010


Natalja Kljutscharjowa: Endstation Rußland

Roman. Aus dem Russischen von Ganna Maria Braungardt. Suhrkamp, Berlin 2010, 187 S., 9,90 €