Historischer Moment: Mit der 1. Karachi-Biennale lanciert die Kunstszene ein Modell für soziale Öffnung und geistige Emanzipation in Pakistan

„Talk to me“. Schon der Titel der Arbeit klingt verführerisch. Auf dem Bildschirm eines Laptops in Karatschis VM-Galerie lächelt ein zierlicher junger Mann anzüglich. Syed Ammad Tahirs Arbeit kommt als Video-Chat daher. Man loggt sich ein und kann mit dem Künstler, der sich an einem unbekannten Ort aufhält, drei Stunden lang chatten. Im Laufe der Online-Performance legt der geschminkte Jüngling Schmuck an, lockt mit ausgestrecktem Zeigefinger und beginnt lasziv zu tanzen.

Was in einer West-Biennale als obligatorische Transgender-Something-Performance abgehakt würde, stellt in Pakistan tendenziell ein existentielles Risiko dar. Die Arbeit des 31 Jahre alten Künstlers aus Karatschi kommt der „Gotteslästerung“ ziemlich nahe. Immer wenn es der Regierung Pakistans zu islam-, militärkritisch oder sonst zu freizügig wird, zückt sie das noch aus britischer Kolonialzeit stammende Schwert des „Blasphemie-Gesetzes“.

Zwar hat das Land bislang niemanden deswegen hingerichtet, allerdings bedeutet schon der Vorwurf der Gotteslästerung Lebensgefahr. Erst im Januar waren fünf Blogger entführt worden. Bis Anfang 2016 war in dem Land youtube drei Jahre lang wegen islamkritischer Filme und „blasphemischer“ Posts gesperrt. Angesichts solcher Bedingungen darf die erste Karachi-Biennale, die Ende Oktober in Pakistans größter Metropole eröffnete, durchaus als historisches Ereignis bezeichnet werden.

Die kulturelle Differenz zwischen Europa und Südasien, zumindest in Sachen Kunst, ist gering. Die 140 Künstler*innen aus 30 Ländern, die meisten von ihnen aus Pakistan, arbeiteten absolut zeitgenössisch: Video, Installation, Performance. Und doch markieren Nuancen den anderen Kontext.

Der 1979 in Lahore geborene Ali Kazim hat in die Galerie der Kunstschule der Indus-Universität eine endlose, röhrenartig verzweigte Skulptur aus Tausenden Haaren gehängt. Adeela Suleman aus Karatschi, Jahrgang 1970, hat in den Hof des Claremont-Hauses einen riesigen, menschhohen Spiegel gestellt.

Kazim überträgt die traditionell ununterbrochene Linie der pakistanischen Miniaturmalerei mit Hilfe eines extrem vergänglichen Mediums in die moderne Skulptur. So wie Suleman das nach traditionellem Spiegelhandwerk hergestellte Rechteck in unzählige Prismen unterteilt, die die Reflektion verwehren, schafft sie aber auch ein Symbol für so etwas wie eine fragmentierte, nie fassbare Identität. Filigran verbinden beide Tradition und (Post-)Moderne.

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Greenwashing: Han Seok Hyuns Installation „Supernatural“ in Karatschis Claremont-Haus.

Dieser andere Kontext inspiriert im Gegenzug westliche Pop- und Konzept-Art. Das Meer leuchtend grüner, recylebarer Plastikverpackungen des koreanischen Künstlers Han Seok Hyun erinnert daran, wie „Greenwashing“ den Verlust an realer Natur in der maroden Megacity kompensieren soll. Und so wie der Berliner Künstler Wolfgang Spahn einen ausgebrannten Mini-Bus mit fluoreszierenden Leuchtbahnen „tätowiert“, überführt er die legendäre „Tribal Truck Art“ der pakistanischen Lastwagen ins Elektronische.

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Tradition goes Elektro: Wolfgang Spahns Installation „Noctilucent“ im Hof von Karatschis NJV-School.

Der große Erfolg der Biennale jedoch ist die Wiedereroberung des Öffentlichen. Keine Kleinigkeit in einem Land, das im Westen als failed-state geschmäht wird. Und in einer Stadt, die noch vor wenigen Jahren einem Labyrinth des Terrors glich. Ob es nun der Bandenkrieg zwischen den Nachfahren der indischen Einwanderer und zugezogenen Paschtunen war, bei dem sich jeden Morgen Leichenberge in den Straßen häuften. Oder die Terroranschläge der pakistanischen Taliban auf die liberale Hafen- und Handelsmetropole wenig später.

Trotzdem igeln sich alle weiter in ihren stacheldrahtbewehrten Domizilen ein. Besonders für die wenigen ausländischen Besucher ist Vorsicht geboten: Die Künstler, Kuratoren und Journalisten, die zur Biennale-Eröffnung nach Karatschi kamen, wurden auf Schritt und Tritt von einer bewaffneten Polizei-Eskorte begleitet.

Und noch immer dominieren Armut, Zerfall und Chaos das Bild der Stadt. Pakistans wirtschaftliches Herz, mit 20 Millionen Einwohnern eine der zehn größten Städte der Welt, gleicht einem riesigen Slum. Es gibt kaum Parks, kaum eine Straße ist geteert, die Häuser zerfallen. Ein durchdringender Fischgeruch und eine undurchdringliche Wolke aus braunem Staub, Hitze und Smog liegen über dem endlosen Häusermeer, durch das eine Springflut von Mopedfahrern wogt. Noch im Herbst klettern die Temperaturen über 35 Grad.

In dieser „Stadt der Träume und Albträume“ (Biennale-Kurator Amin Gulgee) das Bewusstsein dafür wiederbelebt zu haben, dass es so etwas wie öffentlichen Raum gibt, ist wahrscheinlich das größere Verdienst als das „größte Ereignis zeitgenössischer Kunst in Pakistan“ auf die Beine gestellt zu haben – wie die „kb17“ überflüssigerweise die Marketing-Backen bläht.

Zwar sind ihre zwölf sehenswerten Venues schwer zu erreichen in einer Stadt ohne ÖPNV und Ampeln. Ob es nun Karatschis älteste Buchhandlung, der 1945 gegründete Pioneer Bookstore, oder ein verfallenes Bürgerhaus war: Die Biennale öffnete Plätze, die aus dem kollektiven Bewusstsein verdrängt waren.

„Ich bin so froh, das einmal gesehen zu haben“, freut sich Fawzia Naqvi. Die elegante Chefredakteurin von Pakistans führender Kunstzeitschrift „Artnow“, erkennbare Vertreterin der Oberschicht, steht freudestrahlend bei der Eröffnung in dem ockerfarbenen Block der Narayan Jagannath High School in dem wuseligen Proletarierbezirk Preedy Quarters.

In den verfallenen Komplex, 1855 als erste öffentliche Schule der Provinz Sindh erbaut und Sitz des ersten pakistanischen Parlaments, hatten sich jahrelang Polizisten privat eingenistet. Überall liegt noch Müll in den Ecken. Bald öffnet hier eine eigene Kunstabteilung. „Normalerweise wäre ich hier nie hergekommen“, beschreibt Naqvi den sozialen Integrationseffekt der Biennale.

So ist die Biennale ein historischer Moment für Pakistan und noch ein Beispiel für das ästhetische Erwachen des „Global South“, das spätestens seit der Biennale von Havanna 1984 begann. Sie wuchs aus der Mitte der Zivilgesellschaft, initiiert von Frauen. An ihrer Spitze steht mit Niilofur Farrukh die Doyenne der pakistanischen Kunstkritik.

Für den massenhaften „public outreach“, auf den die Biennale-Ladies aus sind, hatten sie schon im Frühsommer unter dem Titel „Reel on Hai“ zwanzig von Graffiti-Künstlern bemalte Kabeltrommeln von Karatschis Baustellen vor Krankenhäusern, Schulen oder in Parks aufstellen lassen.

Schwer vorstellbar, dass sie mit den ästhetischen Lockvögeln wirklich 20 Prozent der 20 Millionen Karatischiis erreichen. Das Ziel, einer Bevölkerung, die täglich von der audiovisuellen Kommerzästhetik überschwemmt wird, alternative Bildangebote zu machen, bleibt dennoch wichtig.

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Die „Reel on Hai“-Version der pakistanischen Cartoonistin Fakeha vor Karatschis St. Patricks Kathedral.

„Es gibt in diesem Land einen Mangel an kritischem Denken“, sagt Nageen Hyat. Die Filmemacherin und Frauenrechtlerin war extra aus dem 1500 Kilometer entfernten Islamabad nach Karatschi gereist. Ihre renommierte Nomad-Galerie in der Hauptstadt organisiert nicht nur Ausstellungen, sondern auch Friedens- und Menschenrechtsarbeit.

„Kunst ist entscheidend für die geistige Emanzipation der Menschen“, bringt sie die Funktion von Kunst in einem Land auf den Punkt, das der Militärdiktator Zia-ul-Haq in den achtziger Jahren auf den streng islamischen Weg zwang. „Es geht nicht bloß um schöne Dinge“. „Wir brauchen dringend eine offene Gesellschaft in diesem Land“ forderte Imran Shaik, Direktor der pakistanischen JS Investment-Gruppe bei der Eröffnungsfeier der Biennale.

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Sich ein Bild machen: Die Mal- und Tanz-Performance des Künstlers Jamal Shah vor der Kulisse von Karachis Frere Hall.

Dieses visuelle Denken wollte auch Jamal Shah stimulieren. Vor der nächtlichen Kulisse von Karatschis Frere Hall, der von den Briten erbauten Stadthalle, lud der Schauspieler und Maler, im Nebenberuf Präsident des National Council of the Arts, zur Multimedia-Performance.

Besucher malten auf die um eine Bühne gestellten Leinwände Impressionen, die von der Choreographie im Inneren des illuminierten Runds inspiriert waren. Jeder Pakistani ist ein Künstler. Anders gesagt: Ästhetisches Empowerment zu dem, was Voraussetzung jeden demokratischen Diskurses ist: Das Vermögen, sich eigene Bilder zu machen.

Text und Fotos: Ingo Arend

Bild ganz oben: Der Künstler Sank King hat das Dachgeschoss der Jamshed Memorial Hall mit Graffiti überzogen. Foto: Ingo Arend

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