Die Autorin Ulrike Guérot fordert in ihrem Buch „Der neue Bürgerkrieg“ das Pferd Europa vom politischen Kopf her aufzuzäumen – und nicht vom ökonomischen Schwanz. Dabei greift sie gerne zu pathetischen Formeln. Trotzdem ist es eine Streitschrift im besten Sinne.
„Europa muss geschaffen werden“. Der Konrad Adenauer zugeschriebene Satz wird immer noch gern zitiert, um die Leidenschaft zu belegen, mit der nach dem Zweiten Weltkrieg die Grenzzäune auf dem alten Kontinent geschleift werden sollten. Nur wie Europa genau geschaffen werden soll, darüber gehen die Meinungen bis heute auseinander.
Mit dem Schlachtruf „Europa oder nationale Barbarei“ will Ulrike Guérot diese politische Vision des Nachkriegs neu beleben. Es hat den Charme des Kontrafaktischen, wenn die Berliner Politikwissenschaftlerin, Jahrgang 1964, in ihrer jüngsten Streitschrift ausgerechnet die derzeitige Krise Europas als Chance sieht, endlich das politische Institut auf den Müllhaufen der Geschichte zu werfen, das sie für die Wurzel allen Übels hält: den Nationalstaat.
Das Weltbürgertum des deutschen Idealismus
Scharfsinnig charakterisiert Guérot den „Europäischen Bürgerkrieg“ derzeit als Mischung aus „transnationalen Verteilungskampf und Kulturkampf“. Ob er allein den „Perversionseffekten des Neoliberalismus“ anzulasten ist, wird zu diskutieren sein. Entschärfen will die Professorin an der Universität Krems diese Krise jedenfalls durch eine „Neugründung Europas“. Nur eine „Europäische Republik“ könne Rechtspopulisten und Nationalisten das Wasser abgraben, die das „verlorene Subjekt“ in „Nostalgie und eine nationale Fahne einwickeln“.
Für Guérot haben die Gründerväter das Pferd Europa vom ökonomischen Schwanz statt vom politischen Kopf her aufgezäumt. Europa sei eine „Währung ohne Demokratie“. Mit Verweis auf das „geistige Weltbürgertum“ des deutschen Idealismus oder die Paneuropäer der Zwischenkriegszeit will sie den „intergouvernementalen Föderalismus“ der EU durch einen „integralen Föderalismus zwischen Personen“ ersetzen. „Europäische Wahlrechtsgleichheit, steuerliche Gleichheit und gleicher Zugang zu sozialen Rechten“, lautet nach Guérot die Formel, „um aus one market und one currency endlich one democracy zu machen“.
Kein billiges Pamphlet
Guérot greift gern zu pathetischen Formeln wie „Das Banner des europäischen Vormärz könnte in jeder europäischen Stadt hochgehalten werden“. Auch sind ihre Vorschläge fast zu einfach, um glaubhaft zu sein. Ob ihr „Europäischer Wohlfahrtspatriotismus“ – die Einführung einer europäischen Staatsbürgerschaft, einer europäischen Arbeitslosenversicherung, eines europäischen Bürgergeldes und von Eurobonds – den grassierenden Populismus und Nationalismus wirklich schlagartig beenden würden, kann niemand beweisen.
Trotzdem ist ihr Büchlein kein billiges Pamphlet, sondern eine Streitschrift im besten Sinne: Eine gut begründete, leidenschaftlich vertretene Vision – und damit das Buch der Stunde. Wie ein Stromschlag fährt es in die ausgebrannten Batterien des Europa-Diskurses der politischen Klasse. „Nach vorne, nach Europa“ fordert Guérot mit beherzten Voluntarismus. Ausgerechnet eine progressive Intellektuelle aus Berlin wird da zur Wiedergängerin des konservativen Machtpolitikers aus Rhöndorf.
Ingo Arend
Quelle: Deutschlandfunk Kultur | BUCHKRITIK | Beitrag vom 29.05.2017
HÖREN
Ulrike Guérot: Der neue Bürgerkrieg. Das Offene Europa und seine Feinde
Ullstein, Berlin 2017
94 Seiten
8 Euro
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