Rückfall in die Bohème. Lauwarme Vorspeisen in Venedig: Auf der größten und wichtigsten Kunstbiennale der Welt will Kuratorin Christine Macel die Kunst aus den Fängen der Politik lösen – landet dabei aber im 19. Jahrhundert.
Wer hat Angst vor Rot, Grün und Blau? Natürlich niemand. Sheila Hicks leuchtende Installation am Ende der Arsenale ist eines der Highlights der 57. Kunstbiennale von Venedig. Kaum ein Besucher verpasste während der Eröffnung vergangene Woche die Gelegenheit zum Selfie vor dem Gebirge aus betörend intensiv gefärbten Wollballen, das die amerikanische Künstlerin bis unter das Dach der historischen Werfthallen aufgetürmt hat.
So publikumswirksam Hicks „Escalade beyond chromatic land“ war, so sehr markiert die Arbeit das doppelte Missverständnis der Schau. Kuratorin Christine Macel präsentiert die amerikanische Künstlerin, Jahrgang 1934, in ihrem „Pavillon der Farben“. Dabei steht sie für Interkulturalität, so wie sie in Lateinamerika und Marokko das Textile für die Bildende Kunst wiederentdeckt hat. Macel fackelt sie in Venedig als „firework“ einer „out-of-self experience“ und als Apotheose der Farbe ab. Kästchendenken und ein Unterton des Naiven erweisen sich als die Achillesferse dieser Biennale.
„Ich sehe es als Problem, dass Kunst sehr oft instrumentalisiert und politischen Interessen untergeordnet wird. Das mag ich nicht.“ Mit diesem Bekenntnis hatte sich die Kuratorin im Vorfeld der 57. Biennale positioniert. Nach Okwui Enwezors vollgestopftem Polit-Blockbuster „All the Worlds Futures“ vor zwei Jahren war schon die Auswahl der 1969 geborenen Chefkuratorin des Centre George Pompidou als Zeichen gedeutet worden, die Kunst wieder auf die klassische Schiene zu hieven.
In Paris war die zurückhaltende Kunsthistorikerin, erst die dritte Frau, die die mittlerweile 122jährige „Mutter der Biennalen“ kuratieren durfte, genau mit derlei stiller Kost aufgefallen: Eine gut recherchierte Ausstellung zu Tanz und Kunst, schöne Einzelschauen zu Gabriel Orozco oder Sophie Calle. Was sie zu der spektakulären Schau „based in berlin“ beigetragen hatte, bei der sie 2011 Co-Kuratorin war, vermag im Nachhinein niemand mehr so recht zu sagen.
„Viva Arte Viva“ – schon der Titel, den sie für ihre Ausgabe wählte, schien nach charmanter Rechtswende und dem aufgesetzten Enthusiasmus zu klingen, mit der sich Kunsterzieher oder Industriellengattinnen für Kunst begeistern. Und auf ihre leise Weise geht es der Kunsthistorikerin auch um den überfälligen Versuch, den passgenau auf alle Konfliktherde dieser Welt zurechtgeschneiderten Biennalen, allen voran derzeit Adam Szymczyks Athener Documenta, eine intelligente Alternative gegenüberzustellen. In ihrem Katalogtext fehlt das übliche Zitate-Geklingel von Agamben bis Žižek.
Macel hat durchaus Arbeiten jenseits des zeitgenössischen Biennale-Mainstreams aus Dokumentarismus, Feldforschung und Agitprop im Angebot: In Hale Tengers Video „Balloons on the sea“ meint man bei den Luftballons, die auf einer vom Wind sanft bewegten Wasseroberfläche schaukeln und unerwartet platzen, eine unsichtbare Spannung zu spüren. Sie könnte am Bosporus, in uns selbst, aber auch anderswo sein.
In Peter Millers 16-mm-Film „Stained Glass“ genügt der Schatten einer Lampe, der ein vibrierendes schwarzes Loch auf die Leinwand wirft, um mit dem eigentlichen Pfund der Kunst zu wuchern: Der Mobilisierung der Imagination, dem Vermögen, die Linie zwischen Realität und Fiktion zu verwischen, aus fast nichts etwas Neues zu schaffen. Und in Vadim Fiškins, auf eine weiß getünchte Backsteinwand projizierter Digitalanimation „Doorway“ markiert eine permanent auf- und zuschlagenden Tür den flüchtigen Moment vor der Erkenntnis des Unbekannten.
„Kunst zu machen allein ist ein revolutionärer Akt“, findet Macel. Doch statt ihre starke These in einen starken Parcours zu gießen, nagelt sie Kunst und Künstler wieder auf Inhalte fest, spießt sie in den Arsenale wie in einer Schmetterlingssammlung in neun „Pavillons“ auf. Von der Kunst als Praxis des „Common“ à la Anna Halprins „Planetary Dance“-Company über die Ökologie („Pavillon der Erde“), den Eros bis zum „Pavillon der Zeit und Unendlichkeit“.
Merkwürdigkeiten inclusive: Die Obsession des brasilianischen Künstlers Ernesto Neto mit den Huni-Kuni-Indianern im Regenwald am Amazonas im „Pavillon der Schamanen“ zu präsentieren, weil er ihren „Sacred Place“ in Form seiner charakteristischen Netzskulpturen nachgebaut hat, rückt seine biomorphe Ästhetik in die Nähe eines esoterischen Spleens.
Die Frage nach der originären Kraft der Kunst beantwortet Macel also mit dem Setzkasten. Aber die Alternative zur Politisierung und dem, was die Kunsthistoriker Anthony Gardner und Charles Green „curatorial narcissm“ nennen, ist nicht kuratorische Standpunktlosigkeit und der Rückzug auf die Rolle des beflissenen Kellners. Nur, um an die Vernissagen-Plattitüde zu erinnern, dass Kunst „alles kann, nichts muss“, hätte es keiner Biennale bedurft.
Macels Versuch, den Künstler wieder ins Zentrum der Kunst zu stellen, offenbart einen latenten Hang zur Vormoderne. Klar kann man ihn als kreativen Müßiggänger deuten. Auf die Mladen Stilinovićs Fotoserie „Artist at Work“ von 1978 anspielt, wo sich der 2016 verstorbene Konzeptkünstler aus Zagreb im Bett räkelt. Und Yelena Vorobyeva und Viktor Vorobyevs Installation „The artist is asleep“ von 1996, wo sich diese Spezies die Bettdecke weit über den Kopf gezogen hat, lässt sich als schönes Gegenbild zu dem Szenemantra „The artist is present“ lesen, dem Marina Abramovi denwürdigen Ausdruck verliehen hat.
Die Kehrseite dieser Spitzweg-Idylle: Wo ihre Landsleute Luc Boltanski und Ève Chiaparello den Künstler als Prototyp des „Neuen Geist des Kapitalismus“ ausgemacht haben: als weltweit vernetzten Kreativ-Entrepreneur seiner selbst; wo ihre Landsfrau Catherine David schon mit der Documenta X 1997 die intermediale Entgrenzung der Künste ins kunsthistorische Stammbuch geschrieben hat, wärmt die Kuratorin Henri Murgers herzerwärmendes Klischee vom weltabgewandten Bohèmian auf. Für drei Monate hat die amerikanische Künstlerin Dawn Kasper ihr Atelier im Biennale-Pavillon in den Giardini aufgeschlagen. Es fehlt eigentlich nur der Kachelofen, in dem sie am Ende ihre Entwürfe verbrennt.
Zum Glück gibt es in Venedig noch die Pavillons. Sonst so rituell wie erfolglos als Relikte eines anachronistischen Nationalstaatsprinzips geschmäht, gelingt hier der Kurzschluss zu den drängenden Fragen eher als in Macels beschaulichem Bilderbuch. Vajiko Chachkianis Installation „Living Dog Among Dead Lions“ im Pavillon von Georgien, ein verwahrlostes, aus seiner Heimat nach Venedig transportiertes Haus, durch das es unablässig regnet, ist eine starke Metapher für die globale Condition Humaine.
Sieht man von dem Schönheitsfehler ab, dass mit Kurator Philipp Kaiser aus Los Angeles ein Mann die Geschlechterfrage im Betriebssystem Kunst aufwirft. Seine repräsentationskritische Gemeinschaftsschau „Women of Venice“ im Schweizer Pavillon kommt ganz ohne die Showwerte aus, die die Nationalpavillons inzwischen dominieren. Teresa Hubbard und Alexander Birchler erinnern mit einer semi-dokumentarischen Filminstallation an Flora Mayo, die „unterschlagene“ Geliebte Alberto Giacomettis. Carol Bove befragt mit ihren minimalistischen Skulpturen die Formsprache des Mannes aus weiblicher Perspektive, der es einst ablehnte, die Schweiz in Venedig zu repräsentieren.
Der koreanische Künstler Cody Choi ironisiert mit seiner Skulptur „Thinker“ aus rosarotem Toilettenpapier, die er Rodins „Penseur“ nachgeformt hat, die Codes des Interkulturellen. Nur Martin Roth, der kürzlich aus Protest gegen den Brexit von seinem Amt als Direktor des Victoria and Albert Museums zurückgetretene Kunsthistoriker aus Deutschland fällt aus der Rolle. In dem von ihm kuratierten Pavillon von Azerbaidschan lassen die überall ausgelegten Hochglanzbroschüren der Familiendiktatur des 2003 verstorbenen Präsidenten Heydar Alijew die Botschaft von „Unity in Diversity“ ins Leere laufen, die Roth mit Elvin Nabizades Installationen aus den unterschiedlichen Musikinstrumenten des zentralasiatischen Landes weismachen will.
Wie ein Stromschlag dagegen trifft die Besucher Anne Imhofs Inszenierung „Faust“ im Deutschen Pavillon. Die deutsche Performance-Künstlerin hat das problematische Gebäude mit Stahlzäunen in eine Mischung aus Lager, Zwinger und S-M-Club verwandelt, unter dessen Glasböden ruhelos Dobermänner umherstreifen. So wie die Installation zwischen Distanznahme und Anverwandlung changiert, schwankt auch die Performance zwischen Angst, Ausgrenzung und Lust. Allein das mit dem Goldenen Löwen ausgezeichnete Werk stellt Macels braven Parcours in den Schatten.
Dass die freundliche Kuratorin der Biennale und der Kunst die „neuen Energien“ zugeführt hätte, die sich Biennale-Präsident Paolo Baratta kurz nach ihrer Berufung erhofft hatte, wird man nach dieser Schau nicht sagen können. Dazu hängt Macel, die im Pompidou einer Abteilung mit dem Titel „création contemporaine et prospective“ vorstehen soll, zu sehr an gut abgehangenen Klassikern wie Franz-Erhard Walther, Jahrgang 1939, der für seine partizipativen „Handlungsobjekte“ auch einen Goldenen Löwen abstaubte. Die Mehrheit ihrer Künstler ist übrigens von weißer Hautfarbe. Und wer nur von Macels gemischten Teller lauwarmer Vorspeisen kostet, wird ihr nicht abnehmen, dass die Kunst das „Leben selbst in Zeiten der globalen Unordnung umarmt“.
Eher dürfte er wie eine der gut 1000 Masken in die Welt zurückschauen, die Bernardo Oyarzùn im Chilenischen Pavillon aufgestellt hat, um an das Schicksal der Mapuche zu erinnern, deren Kultur die chilenische Regierung einst auszulöschen versuchte. Die auf Stahlstelen gespießten Gesichter in dem unregelmäßigen Rund stehen in einer stummen Phalanx aus Trauer und Entsetzen.
Ingo Arend | in WoZ, Zürich, 18.5.2017
Bild ganz oben: Sheila Hicks |Escalade Beyond Chromatik Lands |Mixed Media-Installation (2016-2017) | Foto: Ingo Arend
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AUSSTELLUNG
Biennale di Venezia 2017
noch bis zum 26 November
Guide / Katalog 18 / 89 Euro
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