Die Saat der Utopie
In einer Anthologie beschwören türkische Autorinnen und Autoren den demokratischen Geist vom Gezi-Park
Präsident mit erweiterten Vollmachten. Als der türkische Ministerpräsident kürzlich durchblicken ließ, wie er sich seine künftige Rolle in der Politik vorstellt, dürfte es vielen Türken kalt den Rücken heruntergelaufen sein. Da hatten sie vor einem Sommer im Istanbuler Gezi-Park die erste türkische Republik gegründet, die diesen Namen verdiente. Und diese historische Leistung soll nun in eine Erdogan-Demokratur münden?
Wer ermessen will, wie sehr sich die politische Stimmung am Bosporus wieder gedreht hat, sollte zu der “Gezi-Anthologie” greifen, die die Übersetzerin und Autorin Sabine Adatepe zusammengestellt hat. 21 Autorinnen, Schriftsteller wie Murat Uyurkulak, Publizistinnen wie Ayfer Tunç oder Künstlerinnen wie Janset Karavin, beschwören darin noch einmal den “Geist von Gezi”: Das Gefühl von Freiheit, Menschlichkeit und Solidarität. Vor der leergefegten Kulisse von heute auf dem Taksim-Platz jedoch wirkt das kreative Chaos dieser Tage, das die Fotografien von Selen Özer Günday noch einmal ins Gedächtnis rufen, allerdings wie Lichtjahre entfernt.
Man merkt den Texten dieser “literarischen” Anthologie – vom Offenen Brief über die Erzählung zum Gedicht – an, dass sie unter dem unmittelbaren Eindruck der Ereignisse geschrieben wurden. So sehr kreisen sie um Personen, Orte und Parolen der 14-Tages-Republik. Entweder die Autoren werden direkt politisch wie der kurdische Publizist Burhan Sönmez. In den 21 Thesen seines Manifests “Ästhetik des Widerstands” preist er den “Geschmack von Aufstand” und die “Saat der Utopie”.
Andere kleiden für die Tage typische Erlebnisse in den Mantel der schnell gestrickten Erzählung. Meist, um zu zeigen, wie das brutale Vorgehen der Staatsmacht die unpolitischen Mittelschichten politisiert. Die Autorin Nermin Yıldırım beschreibt in dem Zehn-Tages-Protokoll “Das Gezi-Tagebuch einer Mutter” wie eine Frau zur Sympathisantin der Bewegung wird: “Na, was mein Sohn abkriegt, nehm ich auch, kein Problem”. Die romantische Emphase solcher Texte springt einen heute seltsam an. Etwa wenn der Lyriker Cevat Çapan in seinem Gedicht “Haydar Haydar” die Demonstranten als “Glühwürmchen mit nie verlöschendem Feuer” preist. Dennoch bewahrt die verdienstvolle Anthologie damit etwas von dem Geist jener Tage.
Gelegentlich übersteigt sogar ein Text den realen Anlass poetisch. So verpackt Oya Baydar, die Grande Dame der gesellschaftskritischen Literatur der Türkei, die Sehnsucht der Demonstranten nach Freiheit und Selbstbestimmung in das Gleichnis von dem Kater Tschapaul. Das “warme, weiche etwas”, das die Protagonisten von Baydars, gerade mal vier Seiten langer, Erzählung im Park finden und aufpäppeln, nennen sie nach dem Schmähwort Erdogans von den çapulcu, den Marodeuren. Am Ende sind sie traurig, als das eigensinnige Tierchen das tut, was sie alle wollen – seiner eigenen Wege gehen. Als Präsident dürfte Recep Tayyip Erdogan diesem Wunsch freilich auch künftig entgegenstehen.
Ingo Arend
Dieser Text ist zuerst erschienen in: Cicero/Literaturen Nr. 8/2014
Bild: Gezi Park protests CC BY 2.0 – http://www.flickr.com/photos/turquoisedays/8956858368/
Sabine Adatepe (Hg.): Gezi. Eine literarische Anthologie
Aus dem Türkischen von Sabine Adatepe und Monika Demirel
Binooki-Verlag, Berlin 2014
180 S., 19, 90 Euro
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