Was wir sehen können. Abstraktion und magische Momente. Helmut Lethen entwirft in seinem Buch “Der Schatten des Fotografen” ganz nebenbei eine Schule des Sehens.
Gibt es eine Wirklichkeit hinter den Bildern? Und wenn ja, gibt es einen direkten Zugang zu ihr? Ganz neu ist die Frage, die Helmut Lethen stellt nicht. Die Sehnsucht nach dem “unvermittelten Blick” auf die Welt, jenseits der Medien, ist so alt wie die menschliche Kultur. Doch so wie der 1939 geborene Literaturwissenschaftler sie stellt, macht das sein neues Buch so besonders lesenswert.
“Der Schatten des Fotografen” ist keine systematische Untersuchung. Eher kommt der Band als intellektuelle Autobiografie daher. Lethen ist durch Bücher über “Gottfried Benn und seine Zeit” (2006), vor allem aber durch den Band “Verfahrenlehren der Kälte” (1994) über Intellektuelle in der Zwischenkriegszeit bekannt geworden. Der Wissenschaftler, der nach Professuren in Utrecht und Rostock heute das Internationale Forschungszentrum Kulturwissenschaften in Wien leitet, resümiert prägende Einflüsse seines Wissenschaftlerlebens: Theorien, Philosophen, Bücher, Filme. Und prüft in fünf schlanken Kapiteln, was sie für die Beantwortung seiner Leitfrage hergeben.
“Der Schatten des Fotografen” liest sich wie ein aufschlussreicher Spiegel geistiger Konjunkturen. Denn Lethen, einst Maoist, bekennt sich zu dem “Hunger nach Empirie” der in den 80er Jahren en vogue war. Roland Barthes “punctum”, das Element, das den Betrachter “wie ein Pfeil” trifft oder Siegfried Kracauers, von Marxisten unter Idealismusverdacht gestellte “Theorie des Films” interessierten den Materialisten zu Beginn der achtziger Jahre plötzlich mehr als Walter Benjamins “Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit”. Doch bei der Suche nach den “Einbruchsstellen des Realen” und Auswegen aus der “Nährlösung” der Medien, in der wir alle schwimmen, trifft er schließlich doch wieder auf die “Hinterwelt von Zusammenhängen”, der er zu entfliehen hoffte.
Ob es Robert Capas, von einem Debakel in der der Dunkelkammer malträtiertes, Bild der Landung der Allierten in der Normandie 1944 ist. Oder ob es Dorothea Langes Aufnahme einer kalifornischen Wanderarbeiterin von 1936 ist. Bilder, so Lethens implizites Fazit, geben nicht einfach die Wirklichkeit wieder. Sie sind Produkte einer Apparatelogik, physikaler Prozesse und der Intention des Produzenten. Die Abgebildeten abstrahieren sich zwar oft zu unsterblichen Ikonen. Deren scheinbar “magischer Moment” sich bei näherer Betrachtung als kalkulierte Inszenierung entpuppt.
Unorthodox ist auch Lethens Vorgehen. Kindheitsbilder, Alltagsepiphanien, visuelle Ikonen der Massenkultur bilden den subjektiven Ausgangspunkt seiner piktorialen Tour d’Horizon, den er sanft, aber konsequent zum Objektiven verdichtet. Die Erinnerung an den “Schneewittchensarg”, die Glasabdeckung einer Grammofon-Anlage der fünfziger Jahre etwa führt ihn zu den Glaskästen der zweiten Wehrmachtsausstellung von 2001. Aus deren Umgang mit den Bildern der Verbrechen der Wehrmacht er die Erkenntnis destilliert, dass diese nie für sich sprechen, sondern nur im Kontext von Wissen als historische Beweismittel taugen.
Lethens Buch ist ein paradoxer Triumpf. Denn hier entwirft ein Literaturwissenschaftler wie nebenbei jene “Schule des Sehens”, die man seit Jahr und Tag von den Bildwissenschaftlern erwartet. Das “Unbehagen an der Repräsentation” führt Lethen nicht in das ersehnte Reich der reinen Anschauung. Sondern zu einer präzisen, aber immer lustvollen Bildanalyse und Bildkritik. Und auch, wenn die politische Ökonomie der Bilder in seinem Buch kaum eine Rolle spielt. Diese intellektuelle Vita eines geläuterten Linken markiert am Ende dann doch wieder eine Art Sieg der materialistischen Methode. Bei dem man freilich bemängeln kann, dass die Bilder der digitalen Ära und des Internets keine Rolle spielen.
Mit “Der Schatten des Fotografen” gibt Lethen ein glänzendes Beispiel souveränen Denkens jenseits selbst auferlegter Grenzen und Fixierungen: scharfsinnig, entspannt, selbstreflexiv. Dessen luzide Beweisführung für das absehbare Ergebnis entschädigt: Vielleicht gibt es eine objektive Wirklichkeit. Zugang zu ihr haben wir aber nur über Medien, Bilder. Und die haben ihre eigene Wirklichkeit.
Ingo Arend, Deutschlandradio Kultur 06.03.2014
Helmut Lethen: Der Schatten des Fotografen
Bilder und ihre Wirklichkeit
Berlin 2014,
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