Die Schönheit des Mitleids
Schon für seinen jetzt übersetzten Roman “Auch die Vögel sind fort” hätte der türkische Schriftsteller Yasar Kemal den Literaturnobelpreis verdient gehabt.
Alle Vögel sind schon da. Wer Hoffmann von Fallerslebens Kinderlied im Hinterkopf hat, kann gar nicht anders. Er muss Yasar Kemals Romantitel Auch die Vögel sind fort wie das Signal eines Niedergangs lesen. Das Paradoxe an der Geschichte dreier Istanbuler Gassenjungen: Die Vögel sind gar nicht fort. Sie kommen sogar in riesigen Scharen. Die Menschen in der brodelnden Stadt am Bosporus können nur nichts mehr mit ihnen anfangen.
Kemals Roman stammt aus dem Jahr 1978. Er ist gerade einmal 153 Seiten stark. Und ist doch von einer erzählerischen Wucht, die ihresgleichen sucht. Hier schreibt einer, der das vielklischierte “Leben von unten” wirklich kennt. Als Journalist der Zeitung Cumhurriyet wurde Kemal einst mit einer Serie über obdachlose Straßenkinder berühmt. Und Hayri, Süleyman und Semih, die am Strand von Florya Vögel fangen, die die Gläubigen nach dem Gottesdienst wieder freilassen können, sind wie aus diesem Milieu gegriffen. Ihre Fangnetze für die Vögel stehlen sie sich von den Fischern nebenan. Sie sind verschlagen und aufrichtig, sie prügeln, aber sie achten sich. Doch der Feuereifer, mit dem sie zu Werke gehen, nützt ihnen nichts. Keiner in dem “gottlosen” Istanbul will mehr ihre Vögel kaufen.
Yasar Kemal ist ein Geschichtenerzähler par excellence. Fast 50 Romane hat der große alte Mann der türkischen Gegenwartsliteratur geschrieben. Legendären Status haben der “Memed-Zyklus” und die “Anatolische Trilogie” erlangt. In dem ersten wird der Bauernjunge Memed zum Rebellen gegen den Großgrundbesitzer Abdi Aga in dem südtürkischen Landstrich Cukurova am Golf von Iskenderun. In der Trilogie erzählt Kemal von dem harten Leben der Bauern in dem Landstrich am Taurus-Gebirge. Aber allein schon für dieses kleine, von Cornelius Bischoff stilsicher übersetzte Werk “Auch die Vögel sind fort”, hätte dieser menschenfreundliche Titan der volkstümlichen Epik, der im vergangenen Oktober 90 Jahre alt geworden ist, den Nobelpreis für Literatur verdient.
Man kann diesen Roman wie einen Abgesang auf das alte Istanbul lesen. Etwa wenn Kemals Ich-Erzähler Dolapdere beschreibt: “Das ausgelassenste, bunteste, schillerndste, bezauberndste Viertel der Stadt”. Dolapdere ist “klein, aber eine Welt voller Zauber und unerschöpflicher Vielfalt … wer sich einmal hier niedergelassen hat, wird eher sterben als Dolapdere den Rücken kehren”. Wie alle seine Romane funktioniert aber auch Auch die Vögel sind fort metaphorisch. Unauffällig legt Kemal eine symbolische Spur zu der Modernisierungsgeschichte der Türkei, um die es ihm eigentlich geht.
Es beginnt schon damit, dass die Istanbuler an dem Strand, an dem die Drei ihre Vogelnetze auslegen, Modellflugzeuge in den blauen Himmel steigen lassen. Wie die Zivilisation die Natur verdrängt, benennt der Ich-Erzähler Mahmut später explizit: “Als wären es Goldminen, hat in Istanbul der Sturm auf das Land begonnen. In einem Jahr wirst du nicht ohne Übelkeit dorthin blicken können, wo jetzt noch die kupferfarbenen Karden stehen; hässliche Appartementhäuser und Villen werden an ihrer Stelle wachsen” klagt der Mann, der selbst früher Vögel fing. Der Umbau der Stadt hat also schon vor den jüngsten Protesten am Gezi-Park begonnen. Die als Folie vor dem inneren Auge unwillkürlich auch dann auftreten, wenn man wiederholt von einem Hubschrauber liest, der “über dem Palast des Präsidenten” aufsteigt.
Immer wieder besucht er Hayri, Süleyman und Semih und ermutigt sie, leiht ihnen Geld für Käfige. Auf dem zentralen Taksim-Platz, über den die modernen Menschen der Türkei hasten, singt er für sie sogar das traditionelle Lied “Fliege Vogel, fliege vor, wart auf mich am Himmelstor”, um die Passanten zum Kauf zu bewegen. Doch niemand interessiert sich für die Vögel. Die Leute machen sich lustig über die Jungen, werfen ihnen sogar Tierquälerei vor. Kraftlos geben die drei ihren Ausflug auf.
Der grausige Fund, den Mahmut am Ende der herzzerreißenden Geschichte macht, ist ein Akt ohnmächtiger Rache der Modernisierungsverlierer. Jetzt haben sie selbst jene Kunst verraten, um die sich der Roman im Kern dreht und deren Verlust sie allenthalben beklagen: Die “Schönheit des Mitleids”.
Ingo Arend
Yasar Kemal: Auch die Vögel sind fort
Roman. Aus dem Türkischen von Cornelius Bischoff.
Unionsverlag, Zürich, 2013, 160 S., 12, 95 Euro
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