Auf die Revolutionierung der Wahrnehmung kommt es an
Je politischer, desto schöner. Auf diese Formel ließe sich die Bilanz des Kunstjahres 2012 bringen. Ihr zwiespältiger Höhepunkt war die 7. Berlin-Biennale von Artur Zmijewski in den Berliner Kunst-Werken mit ihren Tiraden gegen “wirkungslose Artefakte”. Mag sein Projekt einer Kunst, die „verändert, Kunst, die nicht leer, sondern kritisch ist, die keine Pseudokritik produziert, sondern tatsächlich transformiert und gestaltet“ auch spektakulär gescheitert sein. Auf seine Idee eines „radikalen Bruchs mit dem System“ oder einer Kunst, die „die Schwelle zu echten Taten“ überschreitet, käme nach dem Berliner Desaster vermutlich niemand mehr.
Die Sehnsucht nach der politischen Mission der Kunst aber schwelt weiter. Das zeigen Ausstellungen wie “Farbe bekennen. Was Kunst macht” oder “Visionen. Atmosphären der Veränderung” im Museum Marta Herford in diesem Jahr. Ganz zu schweigen von der Springflut politisch inspirierter Flachware, die die Projekträume dieser Republik flutet: Von den Stadtteilvermessungen über die Konflikt-Interventionen bis zum Widerstandsarchiv.
Die kritische Selbstreflexion der eigenen Position und des gewählten Mediums findet sich in dieser inflationär gewordenen Polit-Kunst selten. Nicht jeder zeigt so demonstrativ wie fruchtbar seine Skrupel gegen die eigenen politischen Intentionen wie der Pariser Künstler Veit Stratmann. Die bemerkenswerte Begründung, die der Pariser während seines Projekts “L’Aquila Project” aus dem Jahr 2012 zu formulieren begann, verdient es, festgehalten zu werden.
„Wenn eine Aktion das Vermögen entwickelt, etwas an der Situation zu ändern oder ihr zu widersprechen”, so Stratmann, “dann wird sie zu einem Vorschlag, nicht mit der Kunst verwandte Probleme zu lösen und verliert ihren Status als Kunstwerk. Sie wird als Kunst gleichsam aufgehoben”. Es ist mehr als eine rhetorischer Manierismus, wenn er seine “Intervention” in der 2009 von einem Erdbeben zerstörten, italienischen Stadt ausdrücklich als “artistic gesture” deklarierte.
Je schöner Kunst ist, desto politischer ist sie.
Es ist nichts einzuwenden gegen das, was als “politische Kunst” nur ungenau beschrieben ist. Die Initialzündung für die Aktionseinheit von Kunst und Politik, die als Idee zumeist dahinter steht, gab die Russische Revolution. Sie fand ihr Echo in André Breton erstem “Manifeste du surrealisme” ebenso wie später bei Joseph Beuys. Der eine forderte, “die Poesie zu praktizieren”, der andere erfand die “soziale Plastik”. Auch der deutsch-kalifornische Philosoph Herbert Marcuse sprach von der “Architektur einer freien Gesellschaft”. Diese legitime Traditionslinie ließe sich bis zu Martha Rosler legendärer Bilderserie “Bringing the war home” und Andrea Frasers Institutionenkritik ziehen. Problematisch wird es, wenn sie zur hegemonialen Position erhoben werden woll.
Malerei steht mittlerweile fast automatisch unter dem Verdacht, obsolete Subjektivismus oder ein veraltetes Künstlerbild zu befördern. Und KünstlerInnen, die an einer abstrakten Formensprache arbeiten, müssen sich oft genug den Vorwurf eines apolitischen Formalismus, bestenfalls den des Humanismus gefallen lassen. In Jurys ist es schwer geworden, Bewerberinnen zu featuren, die nicht zu allererst auf “kompromißlose Aktualität” oder politisch-historisches Bewußtsein setzen. Gefragt ist Kunst, die mit Fingern auf erkennbare politisch-soziale Tatbestände zeigt. Als ob sich gute Kunst nicht gerade durch ihre Zeitlosigkeit definieren würde.
Bei dieser Entwicklung geht die Erkenntnis verloren, dass hinter jeder “formalen”, scheinbar “unpolitischen” Setzung eine geistige Position steht. Wer heute von Künstlern “politisch-historisches Bewußtsein” abverlangt, dem kämen wahrscheinlich auch die geometrischen Experimente eines El Lissitzky “formalistisch” vor. Und Constantin Brancusi oder Carl Andre dürften es heute schwer haben, irgendein x-beliebiges Arbeitsstipendium zu erhalten. Wenn sie die Idee einer “Endlosen Säule” zu begründen versuchten. Oder diese wieder in die Vertikale stürzen wollten.
Doch was ist Lucio Fontanas Eroberung des Raumes, der Weg in die dritte Dimension, gegen die Stadtteilkartierung, die derzeit auf allen Biennalen der Welt feilgeboten wird? Den ästhetisch oft nur notdürftig kaschierten survival-kits, die dort angeboten werden, würde man immer noch das Teegeschirr vorziehen, dass die KünstlerInnen während der Russischen Revolution kreierten.
Wer heute wieder, wie die Avantgarde zu Beginn des 20. Jahrhunderts, Kunst und Leben verschmelzen will, kommt nicht umhin, eine Bilanz dieses Ansatzes zu ziehen. Gerade weil an diesem Centennium blutig gescheiterter Revolutionen Künstler einen nicht zu unterschätzenden Anteil hatten – vom Futurismus bis zum Faschismus. Vielleicht ist die Fellbacher Triennale für Kleinplastik deshalb in diesem Jahr auf die den Titel “Utopie beginnt im Kleinen” verfallen. Und die Hallenser Werkleitz-Biennale im Herbst rät gar: “Utopien vermeiden”.
So legitim der Bezug auf real existierende, soziale Bewegungen ist. Die größte Revolution ist die Revolutionierung der menschlichen Wahrnehmung und Perspektiven. Und die ureigenen Mittel der Kunst, dieses Ziel zu erreichen, sind das Bewußtsein für Form und Schönheit. Nur weil Jeff Koons oder Takashi Murakami auf einen etwas reduzierten Begriff davon setzen, gibt es keinen Grund, sie in Acht und Bann zu schlagen. Beide gehören, um eine Definition Oskar Negts abzuwandeln, zu den “Maßverhältnissen” der Kunst. Sie sind gewissermaßen ihre Produktivkräfte.
Selbst der Randgruppenprophet Marcuse erinnerte auf dem Höhepunkt der 68’er-Revolte an die “Schönheit als dem sinnlichen Erscheinen der Freiheit”. Und der amerikanische Essayist Dave Hickey schrieb in seiner Streitschrift “The invisible Dragon” 1993 anlässlich der Whitney-Biennale, dem Mekka der politischen Kunst, dass “schöne Arbeiten ohne Tugend überlebten, aber tugendhafte nicht ohne Schönheit”. Setzen wir einfach noch einen darauf und behaupten: Je schöner Kunst ist, desto politischer ist sie.
Ingo Arend
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