Irgendwo zwischen Fluch und Segen
François Bourguignon denkt über eine Globalisierung der Umverteilung nach
Ist die Globalisierung gut oder böse? An dieser Frage scheiden sich die Geister. Mal wird sie als Wunderwerk gepriesen, das es den Menschen ermöglicht, an allem und jedem auf dem Globus zu partizipieren. Mal wird sie zum globalen Teufelswerk stilisiert. Auf deren Konto alle Übel dieser Welt gehen.
Eine unfruchtbare Diskurskonstellation. Bei der man für jeden Versuch dankbar ist, Licht in das Dunkel eines Mythos zu bringen, in dessen sterile Anklage viel intellektuelle Kraft verschwendet wird. François Bourguignons Essay „Die Globalisierung der Ungleichheit“ ist so ein Fall. Für den früheren Chefvolkswirt der Weltbank und heutigen Leiter der Paris School of Economics ist die Globalisierung ein durchaus janusköpfiges Phänomen.
Wie differenziert der Wirtschaftswissenschaftler seine Analyse anlegt, kann man schon daran sehen, dass er bei der Frage nach der Egalitätsbilanz der Globalisierung zwischen „binnenstaatlichem“ und „zwischenstaatlichem“ Lebensstandard unterscheidet. Bei Letzterem hat sie nach seiner Ansicht Erfolge vorzuweisen – zumindest in absoluten Zahlen.
Von 1820 bis 1980, konstatiert Bourguignon mit Blick auf die von den westlichen Staaten forcierte Industrialisierung, habe sich der Abstand zwischen den reichsten und den ärmsten 10 Prozent der Weltbevölkerung verdreifacht. Kurz vor der Jahrtausendwende registriert er eine historische Trendumkehr. Denn seitdem ist „der relative Abstand zwischen den obersten und den untersten 10 Prozent fast ebenso stark gesunken, wie er seit 1900 gestiegen war“.
Das ist eine statistische Größe. Und Bourguignon verschließt nicht die Augen vor dem realen Elend. Legt man die Armutsdefinition von weniger als einem Euro pro Tag und Person zugrunde, so der Autor, lebten 2005 weltweit 1,4 Milliarden Menschen in Armut. Das seien dennoch weniger als 1980, wo noch 2 Milliarden Menschen dazu zählten. Globalisierungskritiker werden Bourguignons Fazit nicht gern hören: „Seit den 1990er Jahren ist die Zahl der Armen um 500 Millionen Personen gesunken.“ Grund seien die Produktivitätsfortschritte der Schwellenländer.
Die Kehrseite dieses Trends sei aber die „binnenstaatliche“ Ungleichheit. Parameter sind hier die Lohnhöhe und der Lebensstandard. Das trifft fast alle OECD-Staaten. Aber auch China. In den USA hat die Ungleichheit nach Bourguignon „heute wieder einen Stand erreicht wie zuletzt vor hundert Jahren“.
Einfach wird sich das Paradox der Globalisierung „Anstieg nationaler Ungleichheiten bei Abnahme globaler Ungleichheit“ nicht auflösen lassen, schwant Bourguignon. Zumal es innerlich zusammenhängt. Die Wettbewerbsvorteile der Entwicklungsländer schlagen sich in den Industrienationen als Deindustrialisierung und Prekarisierung nieder. Die „Globalisierung der Gleichheit“ glaubt der Autor mit einer international koordinierten Politik aus Mindestlohn, Besteuerung von Kapitaleinkünften und besseren Bildungschancen erreichen zu können.
Als Beispiel führt Bouguignon seine Heimat an. Die dort betriebene Politik des Mindestlohns habe aus Frankreich ein „Land mit moderater Ungleichheit“ gemacht. Während die als „Jahrhundertreform“ gepriesene Senkung des Einkommensteuerspitzensatzes in Schweden den egalitären Wohlfahrtsstaat geschleift habe.
Die „ökonomische Ineffizienz“ dieser Politik – Arbeitskraft wird teurer – nimmt Bourguignon in Kauf. Weil der Konsensstratege weiß, dass massive Ungleichheiten unweigerlich zu sozialen Spannungen führen.
Bourguignos Band ist weder wütende Globalisierungsattacke noch abgehobene Wirtschaftsphilosophie. Sondern eine nüchterne, empirisch fundierte Bestandsaufnahme mit reformistischer Agenda. Wenn das Stichwort „Globalisierung gestalten“ nicht nur eine Floskel ahnungsloser Empörter bleiben soll – mit konkreten Maßnahmen, wie sie Bourguignon vorschlägt, wird diese Herkulesarbeit beginnen müssen.
Ingo Arend, taz 09.10.2013
François Bourguignon: „Die Globalisierung der Ungleichheit“
Übersetzt v. Michael Halfbrodt
Hamburger Edition, Hamburg 2013, 127 S., 12 Euro
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