Geburt einer demokratischen Bewegung
Mit dem Aufkommen der türkischen Zivilgesellschaft Mitte der 1990er Jahre wurde auch eine politische Opposition geboren. Die Frankfurter Politologin Anil Al-Rebholz datiert die „Geburt“ der türkischen Demokratie weit vor den jüngsten Ereignissen.
Die Geburt der türkischen Zivilgesellschaft. So unterschiedlich die Medien im Juni die bürgerkriegsartigen Szenen um den Gezi-Park im Zentrum Istanbuls bewerteten – in einem Punkt waren sie sich alle einig. Der Versuch der Regierung des islamischen Ministerpräsidenten Erdogan, den Widerstand gegen seine Pläne zum Stadtumbau gewaltsam zu ersticken, hat der Türkei etwas beschert, was sie vorher nicht hatte: eine demokratische Opposition.
Wie wenig die journalistische Parole einer zivilgesellschaftlichen „Stunde null“ am Bosporus aber mit der Realität übereinstimmt, kann man jetzt in einem Buch nachlesen, das schon im Frühjahr erschien, aber weitgehend unbeachtet blieb. Darin datiert die Frankfurter Politologin Anil Al-Rebholz die „Geburt“ der türkischen Zivilgesellschaft weit vor den jüngsten Ereignissen.
Als Zäsur setzt sie spätestens das Jahr 1996 an. Damals erschien in der Tageszeitung „Hürriyet“ erstmals die Schlagzeile „Die Zivilgesellschaft steht bereit“. Doch schon 1995 existierten nach offiziellen türkischen Schätzungen fast 4000 Organisationen, die sich unter diesem Begriff subsumieren ließen. Die Pionierrolle bei der Etablierung der jüngeren türkischen Zivilgesellschaft nehmen für Al-Rebholz die neue Frauen- und die Menschenrechts-Bewegung ein.
Al-Rebholz‘ Buch ist ihre Doktorarbeit aus dem Jahr 2009 an der Universität Frankfurt, wo sie heute Gesellschaftswissenschaften lehrt. Die Datenbasis liegt also schon einige Jahre zurück. Wer sich von der sperrigen Sprache und Struktur solcher akademischen Pflichtübungen nicht abschrecken lässt, dem wird sie zu einer wertvollen Erkenntnisquelle über die türkische Gesellschaft – so wie sie Theorie und Empirie kombiniert: Sie lässt die Entwicklung der Intellektuellen vom Osmanischen Reich bis zur türkischen Republik Revue passieren. Zeichnet die Versuche nach, den Islam als „kulturellen Zement“ der türkischen Gesellschaft zu instrumentalisieren. Oder erinnert an weniger bekannte Strukturprobleme der türkischen Zivilgesellschaft: das Politik- und Bündnisverbot für ihre Organisationen etwa. Eine Interview-Serie mit Protagonisten der Frauen- und Menschenrechtsbewegung bringt Leben in die historischen und theoretischen Kapitel.
Interesse verdient vor allem Al-Rebholz‘ Beobachtung, dass das Aufkommen des Diskurses über die Zivilgesellschaft in der Türkei parallel zum weltweiten Siegeszug des Neoliberalismus verläuft. Ausgehend von den Theorien des italienischen Marxisten Antonio Gramsci sieht sie dessen allmähliche Durchsetzung als „Teil von einem Kampf um die Hegemonie“ nach dem Militärputsch von 1980. Damals galt es, die brüchig gewordene Gründungsideologie der Kemalisten zu ersetzen.
Der Erfolg dieses Diskurses markiert ein nicht nur für die Türkei typisches Dilemma. Dem Mehr an Zivilgesellschaft samt dem kritischem Bewusstsein seiner Akteure steht die wachsende Akzeptanz eines Begriffes entgegen, der zum Kern des Neoliberalismus gehört: Abbau des Staates.
Ingo Arend, Deutschlandradio Kultur 18.07.2013
Anil Al-Rebholz: Das Ringen um die Zivilgesellschaft in der Türkei.
Intellektuelle Diskurse, oppositionelle Gruppen und Soziale Bewegungen seit 1980
Transcript Verlag, Bielefeld 2013
402 Seiten, 33,80 Euro
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