Ein Torpedo durch die Zeit, der nach und nach seine Antriebsstufen abstößt. So hatte Alfred Barr, der legendäre Gründungsdirektor des New Yorker Museum of Modern Arts, einmal seinen Kunsttempel charakterisiert. Dieses Haus, so die Botschaft damals, ist immer vorne. Heute ist das MoMA ein schwerer Tanker und kreuzt den Entwicklungen eher hinterher, dem „Vielflieger“ Klaus Biesenbach und seinem MoMA-Satelitt PS1 zum Trotz. Jetzt sind die Biennalen die Torpedos. Wie Sternschnuppen gehen sie plötzlich über den Planeten nieder. Über 200 soll es weltweit inzwischen geben – von Shanghai bis Kreuzkölln. Sogar einen Lobbyverband der Biennalen gibt es schon: Das European Biennial Network mit Sitz in Athen. Das größte Problem der immer beliebteren Überraschungstüten: Sie glänzen so schön, sind aber, ach, so schnell verglüht.
Angesichts dieses Dilemmas war es mehr als überfällig, dass wenigstens einer von diesen, stetig ins Zeitgenössische nach vorne rasenden Kunst-Torpedos, einmal den Blick zurück wagte. Die Istanbul-Biennale kann es sich leisten. Denn neben den Müttern der Biennalen in Venedig und Sao Paulo hat sie sich genau zu der „New Art-Destination“ gemausert, von der die Istanbuler Kunstmesse Contemporary, die vergangene Woche, zeitgleich zu der Konferenz „Remembering Istanbul“, zum fünften Mal stattfand, vorerst noch träumt. Eigentlich als diskursiver Auftakt der nächsten Biennale im Herbst 2011 gedacht, brach auf dem von der rührigen, privaten Istanbuler Stiftung für Kunst und Kultur (IKSV) veranstalteten Gedankenaustausch in der (ebenfalls privaten) Bilgi-Universität plötzlich die schon länger schwelende Sinnkrise im grenzenlos ausgeweiteten Territorium Artis auf.
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Jetzt sind die Biennalen die Torpedos.
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Zwar entstand in den Vorträgen der neun Istanbul-KuratorInnen bislang, von René Block (1995) über Yuko Hasegawa (2001) bis zu dem kroatischen Kuratorinnenkollektiv „WHW – What, How and For Whom“ (2009) das Mosaik einer Institution, die sich von der Peripherie ins Zentrum vorgearbeitet hat – aus der Taufe gehoben unter dem Schock des „heavy handed fascism“ in der Türkei, wie sich Beral Madra, die Doyenne des unabhängigen Kuratierens am Bosporus immer noch schaudernd erinnerte. Und als erste radikal die Biennale-Zöpfe abschnitt: 1989, im Jahr des Mauerfalls, löste sie Vasif Kortun aus dem Magnetfeld der Transatlantischen Kunst, schaffte das Pavillon-Prinzip ab und zog aus dem Touristenghetto in die Stadt von heute. Nicht ohne Grund wählte er damals den kongenialen Titel „Desorientation“ für seine Schau. Und bis auf das 2005 von René Block entdeckte alte Warenlager Antrepo im Hafen von Istanbul, wo sich inzwischen auch
das privat betriebene Kunstmuseum Istanbul Modern angesiedelt hat, hat diese immer bedeutendere Biennale kein zentrales Haus, in dem sie stattfindet – und das ist auch gut so. Denn so bleibt diese Ausstellung flexibel und wohltuend unroutiniert. Und sie hat das Antlitz der internationalen Kunst entscheidend geändert. Ohne die türkische Kunst einer Hale Tenger, einer Gülsün Karamustafa, eines Kutlug Ataman, einer Ayse Erkmen und vieler anderer, die auf dem Umweg der Entwicklung dieser Biennale „entdeckt“ wurden, ist die zeitgenössische Kunst weltweit heute nur noch schwer vorstellbar.
Die Istanbul-Biennale hat den Bruch mit den Konventionen und die Emergenz des Neuen also quasi in den Genen. Deshalb klang es reichlich nostalgisch, als ausgerechnet ein Pionier des Kuratierens wie René Block beklagte, dass die Biennalen nach zwei Monaten endeten und nichts als der Katalog an seine Arbeit erinnere. „Dem Kurator bleibt nichts“ klagte er mit trauriger Stimme“ über das leere Gefühl der eigentlichen „Macher“ am Ende der Schau. Kann man irgendwie verstehen. Zumal die Kuratoren-Arbeit in gewisser Hinsicht durchaus eine eigenständige Leistung ist, die an’s Künstlerische grenzt. Nicht ganz zu Unrecht wurde in Istanbul immer wieder die Arbeit des Kurators mit der des „Dirigenten“ eines Orchesters verglichen. Aber: Biennalen, wollt ihr ewig leben? Es fehlte nur noch, dass demnächst Kuratoren-Museen eingerichtet werden. Und spätestens als die deutsch-türkische Künstlerin Ayse Erkmen jubilierte, dass das Karussell dieser Ausstellungen das Leben des Künstlers so schön in Bewegung halte, weil die so ständig neue Orte sähen, für die sie sich neue Kunst ausdenken müssten, merkte man, wie die Insassen des Betriebssystems Kunst bisweilen etwas besinnungslos im Hamsterrad der selbstkreierten Institutionen kreisen: Hauptsache, sie drehen sich!
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Schließlich ist Kunst immer noch
eine Weltsprache und kein örtlicher Dialekt.
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All diese Mankos ändern aber nichts daran, dass die Biennalen die richtige Präsentationsform der globalisierten Kunstwelt von heute bleibt. Und zwar nicht, weil der ebenso lustige wie kluge chinesische Kurator Hou Hanrou (2007) sie für „das aufregendste Ding“ hält. Sondern weil sie den globalen (Kunst-)Diskurs am besten zur Anschauung bringen. Wer wollte schon zurück zu nationalen Großausstellungen? Zwar fallen hier und da schon mal Kuratoren hinter die schwer hintergehbaren Maßstäbe zurück, die Jean-Hubert Martin 1989 in Paris setzte. Für progressive Kuratoren wie den Amerikaner Dan Cameron (2003), der inzwischen mit Hilfe einer eigenen Biennale den Wiederaufbau des von einer Flut zerstörten New Orleans befördern will, ist Martins legendäre Ausstellung „Magiciens de la Terre“ noch heute stilbildend. Doch der immer stärkere Hang zum Mainstream, und „Uniformität und Monotonie“, jederzeit nachprüfbare Entwicklungen, die Madra zu Recht als Achillesferse der Biennalen derzeit ausmachte, ließen sich leicht beheben. Indem man die überflüssige Event-Kultur rund um die Biennalen radikal zurückstutzt. Sie zu den „Bürgersteig-Veranstaltungen“ macht, die Kortun vorschwebt. Wieder radikal auf Inhalte statt bloß auf coole Slogans setzt. Und auch der Gefahr begegnet, sich allzu „site specific“ auf lokale Gegebenheiten einzulassen. Schließlich ist Kunst immer noch eine Weltsprache und kein örtlicher Dialekt. Auf jeden Fall können die Ansprüche an diese Veranstaltungen noch weiter steigen. „Man muss die Dinge schwierig machen“ forderte ausgerechnet der älteste Konferenz-Teilnehmer, der 1938 geborene, türkisch-armenische Künstler Sarkis, in einem leidenschaftlichen Plädoyer für einen Ausstellungsmodus, der leider oft nur noch das Deckmäntelchen für’s gehobene Stadtmarketing abgeben oder die Kreativwirtschaft hätscheln soll.
Ob „Ohne Titel“, das Motto, das Jens Hoffmann und Adriano Pedrosa, die neu berufenen Verantwortlichen der 12. Istanbul-Biennale im Herbst 2011, ihrer Schau gegeben haben, nur eine Verlegenheitslösung ist oder endlich auch den Zuschauer zu dem eigenständigen Kunstproduzenten macht, wie es Yuko Hasegawa von den Biennalen der Zukunft forderte, wird sich noch erweisen müssen. Auch wenn Hasegawas Satz: „how to draw the art viewer into creative intelligent involvement“nicht ganz so neu ist, wie er klingt. „Der Betrachter ist im Bild“ sagt man hierzulande ja schon länger. Und nur mal angenommen: Wenn all die Millionen Biennale-Besucher all over the world demnächst alle auf jeder Biennale ein Kunstwerk hinterlassen würden, dürfte das nicht nur jede Menge logistische Probleme aufwerfen. Und Joseph Beuys dürfte sich freuen, weil dann sein Motto: „Jeder Mensch ist ein Künstler“ endlich Wahrheit würde. Documenta-Chefin Carolyn Christov-Bakargiev, die der Konferenz folgte, ließ sich in Istanbul übrigens nicht in die Karten für Kassel 2012 schauen. Bleibt zu hoffen, dass der einzige Satz, den sie dort sagte, nicht programmatisch zu verstehen ist. Als sie ihre Kollegen nach den komplizierten Transportproblemen solcher Großausstellungen fragte, fügte sie erklärend hinzu: „Ich interessiere mich für Details“.
Text und Fotos: Ingo Arend
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