Tödlicher Konsum

Manch einer beklagt, dass dem umstrittenen kanadischen Regisseur David Cronenberg in letzter Zeit der Biss abhanden gekommen ist. Insbesondere Cronenbergs vorletzter Film „Cosmopolis“ markiert einen Tiefpunkt im Schaffen der einstigen Gallionsfigur des Body-Horrors. Statt körperlicher Mutationen und psychischer Ausnahmezustände ist die Verfilmung des gleichnamigen Romans von Don DeLillo geprägt von einer aseptischen Atmosphäre, einem Hauptdarsteller, der die ihm in den Mund gelegten – ohnehin recht geschwätzigen Monologe – selbst nicht zu verstehen scheint und – gähnender Langeweile.

Von da an konnte es fast nur wieder bergauf gehen. Und so ist es auch geschehen. Im Jahr 2014 kehrte Cronenberg mit dem Salzsäure-Sarkasmus seiner Hollywood-Satire „Maps to the Stars“ zurück zu – nicht Best-, aber sehr guter Form. Aber was noch wichtiger ist: 2014 brachte Cronenberg im zarten Alter von 71 Jahren seinen ersten Roman heraus. Der deutsche Titel „Verzehrt“ ist eine von mehreren möglichen Übersetzungen des Originaltitels „Consumed“. Jener ist nüchterner, aber zugleich auch anspielungsreicher.

„Verzehrt“ ist Cronenbergs Version eines Sci-Fi-Krimis, der in der unmittelbaren Zukunft angesiedelt ist. Die Hauptfiguren sind zwei ehrgeizige Journalisten, die Anfang dreißig und miteinander leiert sind. Allerdings findet der Kontakt zwischen Nathan und Naomi fast ausschließlich über die neusten Spielereien der neuen Medien statt. Einmal treffen sie sich am Flughafen in Amsterdam und haben kurz Sex. Ansonsten befriedigen sie ihre körperlichen Bedürfnisse bevorzugt mit ihren jeweiligen Interviewpartnern.

Im Fall von Nathan ist dies eine Frau, die traurig ist, weil sie gerade an Krebs stirbt. Als sie Nathan bei seinem „Mitleidsfick“ mit einer längst ausgestorben gewähnten obskuren Geschlechtskrankheit ansteckt, ist dieser plötzlich direkter betroffen, als geplant. Deshalb reist er nach Toronto, um sich mit dem Entdecker der Krankheit, dem seltsamen Professor Roiphe zu treffen. Dort lernt Nathan auch Roiphes Tochter kennen, die sich gerne kleineStückchen eigenen Fleischs herausschneidet, um dieses zu verzehren. Seine eigene Frau verzehrt haben soll indessen der Pariser Philosoph Aristide Arosteguy. Naomi folgt seinen Spuren bis nach Tokio und später sogar bis nach Nordkorea.

„Verzehrt“ zeigt eine nahe Zukunft, die eine übersteigerte Spiegelung unserer heutigen Gegenwart ist. Es ist eine Welt, die innerlich zersprungen ist. Auf der einen Seite regiert ein fetischistischer Technik-Fanatismus, der immer stärker an die Stelle eines unmittelbaren Wirklichkeitsbezugs tritt. Auf der anderen Seite kehrt die als überflüssig abgetane Körperlichkeit mit aller Macht in grotesk übersteigerter Form als eine Faszination für Krankheiten, Deformationen und Verstümmelungen und den Tod zurück.

Somit knüpft Cronenberg mit „Verzehrt“ an emblematische Werke, wie „Videdrome“ (1983), „Die Unzertrennlichen“ (1988), „Crash“ (1996) und „eXistenZ“ (1999) an und transportiert deren Themen in die Gegenwart. Waren es in „Videodrome“ noch Fernsehsendungen und später in „eXistenZ“ Computerspiele, welche die gewohnte Realität überlagerten und durchdrangen, so haben wir heute mit der Allgegenwärtigkeit von Mobiltelefonen, Videochats und dem Web 2.0 eine Situation, in welcher die körperliche Realität nur eine Option unter vielen ist. Was wahr und was relevant ist, bestimmt zu die Präsenz im Netz.

Diese kalte Welt der modernen Kommunikationstechnik schließt Cronenberg in „Verzehrt“ kurz mit pervertierten Operationstechniken, wie in „Die Unzertrennlichen“ und dem Dreiklang aus Technik-Fetischismus, Sex und Tod, wie in der Verfilmung des J. G. Ballard-Romans „Crash“. Diesem kalten Kosmos entspricht Cronenbergs glasklare Sprache, in der er mit der Präzision einen Chirurgen die makabersten körperlichen und geistigen Deformationen mit größter Nüchternheit und Detailverliebtheit festhält.

Nicht selten wirkt diese Detailverliebtheit recht narzisstisch: Viele Feststellungen erwecken den Eindruck, Cronenberg habe sie nur gemacht, um zu zeigen, wie belesen er ist. Dies kann den positiven Gesamteindruck dieses Erstlings jedoch nur unwesentlich schmälern. Nach der Lektüre von „Verzehrt“ glaubt man Cronenberg, wenn er sagt, ursprünglich habe er Schriftsteller werden wollen, nur sei ihm die Filmerei dazwischengekommen und habe ihn 50 Jahre lang vom Schreiben abgehalten.

Gregor Torinus

 

verzehr

Cover: S. Fischer

 

Verzehrt, von David Cronenberg

(Original erschienen bei Penguin Canada, Toronto 2014)

auf Deutsch im S. Fischer Verlag, Frankfurt 2014