Botho Strauss ist, ganz und gar zeitgenössisch, ein anti-moderner Schriftsteller. Und so schön sein anti-modernes Schreiben auch ist, meistens, so enervierend kann gelegentlich sein anti-modernes Denken sein. Ich meine: dort wo das anti-moderne Denken umkippt in ein Denken der Anti-Moderne. So geht das immer wieder zurück, hält sich bei Rudolf Borchardt auf, sucht nach Ursprung und Ahnen und verwechselt noch das Moderne mit seinen Moden: „Zu lange schon waren wir modern und wurden lediglich mehrmals von neueren Modernen überholt“. Leider ist dies ganz einfach nicht wahr, vielmehr wurde noch jedes Moderne von seinen Antipoden der Beharrung und der Bequemlichkeit überholt. Nicht dass Botho Strauss etwa auf Seiten von Beharrung und Bequemlichkeit stünde, vielmehr muss er ja seine Schätze, und davon hat er reichlich, einigermaßen angestrengt verteidigen. Und wir müssen Botho Strauss verteidigen, einerseits gegen ihn selbst, und andererseits gegen jene Antipoden, die von ihm gerade mal die ungemütliche Nähe zur neuen Rechten aufgeschnappt haben. Aber der Reihe nach.

Es geht um dieses: „Ein Mann, der nach vielen Jahren in der Fremde endlich seine Heimreise antritt, muss drei oder vier Stationen vor dem Ziel den Zug verlassen, da sein Land nach einem Putsch über Nacht sämtliche Grenzen schloss und jedermann die Einreise verweigert. Er überlässt sich einem unfreiwilligen Aufenthalt im Bahnhof einer kleinen Grenzstadt, die er nicht besuchen wollte. Die Weiterfahrt verzögert sich auf unbestimmte Zeit. Diese verbringt er im Wartesaal zusammen mit einigen, nicht sehr vielen Mitreisenden, die das gleich Ziel haben wie er, vielleicht aus seinem Geburtsort stammen, aber allesamt zu jung sind, als dass ihm noch ein Gesicht bekannt vorkäme, aus alter Verwandtschaft erinnerlich.

Das ist dann der Aufenthalt, er könnte länger dauern“.

Daraus könnte man ein Phantasiestück machen, eine Erinnerungsreise, eine Zeitskulptur, auch Action und Suspense wären mit so etwas zu haben, ein Autor verschwindet; nicht so Botho Strauss. Er macht Sprache daraus. Autonome Text- Teile, in Längen zwischen zwei Teilen („Sprache soll man verdunkeln, wie einst die Häuser unter Luftangriff“) und einer Buch-Seite. Ideen, Träume, Erinnerungen, Behauptungen, Mikro-Erzählungen, mal religiöse Science Fiction, mal Selbstbefragung, mal Sentenz. Man weiß also nicht so genau, wie man dieses Buch lesen soll: Wie einen Roman, wie ein Imediatbüchlein, wie einen philosophischen Text, wie lyrische Kurzprosa, wie ein Traktat? Solche Markierungen sind gemeinhin wichtig, bis hin zur Wahl der Sitzposition oder der des die Lektüre begleitenden Getränks (bzw. dem Verzicht darauf).

Also, sagen wir, es ist eine Art Sammeltätigkeit. Man sieht einem „Endlos-Ermittler in der Sprache“, bei der Arbeit zu, die aber immer wieder in ein „zartes Jenseits“  führt, wo es eben auch „Wellen und Stöße des Ungeahnten“ gibt. Das muss man natürlich wollen. Auch wollen können oder können wollen, je nachdem. Am besten legt man zwischen Teilen des „Vom Aufenthalt“ Aufenthalte ein. Das ist nicht so dahin gesagt, denn gerade darum geht es in Botho Straussens Text: Was ein Aufenthalt ist. Vielleicht ist das Leben ein Aufenthalt, vielleicht ist aber der Aufenthalt eben das, was im Leben so sehr fehlt, dass wir ihn uns hier und da erzwingen oder erträumen müssen.

„Vom Aufenthalt“ ist ein gebildeter Text. Das heißt einerseits, es gibt für uns normale Leute auch Grenzen des ersten Verständnisses (von den nachfolgenden wollen wir gar nicht reden). Botho Strauss macht sich nichts daraus, schon einmal eine Zeile auf altgriechisch drucken zu lassen, einen Abschnitt in französisch zu belassen, und Swedenborg – haben Sie jüngst Swedenborg gelesen? Brauchen Sie nicht: „Swedenborgs Engel: zwei, die auf Erden einander geliebt haben, bilden im Himmel einen einzigen Engel“. Sie verstehen: Ein gebildeter Text will ja nicht angeben. Er hat nur seine eigene Art, irgendwie hinzukommen. (Oder, genauer: sich irgendwo aufzuhalten.) Und Botho Strauss ist kein literarischer Angeber, deswegen lese ich immer gerne auch da weiter, wo ich ihn nicht verstehe,  sei es, weil mir das Reservoir der humanistischen Bildung (sagt man so?) fehlt, sei es, dass ich nicht verstehe, wie jemand so angeekelt sein kann von der Moderne, der Freiheit, der Leichtigkeit, die doch gar nie gekommen sind. „Was du willst, darfst du. Jedoch ist vor lauter Dürfen dein Wille wohl schwach geworden“. (Denkt sich ja übrigens, in „Vom Aufenthalt“ einer, der weder vorwärts noch zurück darf, wo immer vorwärts oder zurück auch liegen mag.) Viele dieser Sätze gibt es, die geschrieben scheinen, als hätten sie es förmlich auf eine reaktionäre Fehlinterpretation abgesehen.

„Auch ein komplexes Wissen bedarf eines Wissens über sich selbst auf einer anderen Stufe als der der Komplexität. Ist es eine höhere, ist es eine niedrigere: die der Metapher, der Imagination?“, fragt Botho Strauss. Nun kann es aber, und so eben denkt die verachtete Moderne, ein „komplexes Wissen“ gar nicht geben (denn im Komplexen treffen sich Wissen und Nichtwissen gerade auf nicht wissende Art, oder anders gesagt: Komplexes hat eben gerade kein Wissen von sich selbst, sonst wäre es höchstens kompliziert), so dass die Metapher allenfalls Ideologie und die Imagination Traumware sein können.

Merken Sie was? Es macht Spaß, mit Botho Strauss zu streiten, während des Aufenthalts in seinem Text und mit seinem Text.  Was kann man von einem Buch mehr verlangen?  „In der Sprache entscheidet das Betörende, nicht das Argument. Jenes wird durch Wiederholungen stärker, dieses schwächer. Selten wird ein Argument zwischen zwei Argumentierenden nur ein einziges Mal angeführt“.

Deshalb, vermutlich, hat einer, der schön schreibt, am Ende doch mehr recht als einer, der recht hat.











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Autor: Georg Seeßlen