138 Karteikarten, die entweder ein Roman oder aber verbrannt werden sollten, wurden nun als Nabokovs letzter Roman “Das Modell für Laura” veröffentlicht

Jemandem bei der Arbeit zuzuschauen, ist erlaubt, aber ein bisschen unangenehm. Jemandem beim Kochen, Essen oder Aufräumen zuzuschauen, ist ein Verstoß gegen ein mildes Tabu. Jemandem beim Sich-Zurechtmachen, bei der Körperpflege, beim Einüben von sozialen Auftritten, beim Erlernen von Codes, bei Nachmach-Versuchen und beim Schauspiel-Training vor dem Spiegel zuzuschauen, ist eine mittlere Tabu-Katastrophe. Jemandem beim Geboren-werden, beim Sex und beim Sterben zuzuschauen, ist eines der letzten Tabus, die wir noch als wirksam ansehen (und daher manisch um es herum erzählen, abbilden und phantasieren). Jemandem beim Schreiben zuzuschauen aber, das ist, als würde man alle Tabus des Sehen-was-nicht-gesehen-werden-soll auf einmal übertreten.

Der größte Skandal ist, so scheint es, nicht eine mehr oder minder gewaltsame Überschreitung der Grenze zwischen dem Außen und dem Innen, dem Öffentlichen und dem Privaten, sondern ein Eingriff in den Vorgang des Veröffentlichens, eine Störung der Arbeit an der Schnittstelle zwischen Leben und Text. Das Subjekt beim Entpuppen beobachten: grauenvoll. Deshalb regt uns, ganz unabhängig von literarischen oder legalistischen, moralischen oder philosophischen Fragen, so ein Vorgang nach wie vor auf: ein Buch, das nicht fertig hat werden können und das sein Autor daher auch nicht zur Veröffentlichung „freigegeben” hat, dennoch zu veröffentlichen, auch jenseits des Kreises der Eingeweihten. Ein Literaturwissenschaftler ist daher, was das Tabu anbelangt, in einer Lage ähnlich der des Arztes oder des Psychologen. Er sollte möglicherweise Befunde abgeben, aber über dem eigentlichen Vorgang des paradox erlaubten (ja notwendigen) Tabuverstoßes den Mantel der Eingeweihten gedeckt lassen.

Es ist daher vielleicht kein Wunder, dass Schriftsteller, wie andere Künstler, bei der Arbeit am liebsten allein oder wenigstens im Kreis der Eingeweihten bleiben. In der Old-School-Auffassung mag es so scheinen, als sei der Einblick in den Schaffensvorgang, die Besichtigung eines unfertigen Werkes zum Beispiel, eine Entweihung (als sei überhaupt das „Gemacht-worden-sein” eine Unfeinheit gegenüber dem Kunstwerk); die New School der Kunst, die gerade das work in progress schätzt, verlangt hingegen, dass der Einblick nur als Teil des Kunstwerkes selber geschehen soll. Auch New-School-Künstler wollen sich nicht beim Nicht-recht-weiter-Wissen, beim Nachschauen bei Vorbildern (oder bei sich selbst), beim Ausprobieren und Verwerfen, bei grausam trivialen Nebengeräuschen der ästhetischen Produktion erwischen lassen.

Daher hat der alte Künstler sein unfertiges Werk so radikal verdammen müssen. Es genügte nicht, sich davon loszusagen, seine Vernichtung oder sein Verschwinden im Fall des eigenen Todes anzuordnen. Es muss, so lautet der immer wiederkehrende Auftrag an die Vertrauten und Erben, geradezu verbrannt werden. Das ist nicht nur die offenbar radikalste Art der materiellen Vernichtung eines Kunstwerkes (das noch keines werden konnte), es ist, beinahe mag einem die Vorstellung von Witwenverbrennung einfallen (gibt’s eigentlich in irgendeiner Menschen-Kultur eine Witwerverbrennung?), ein Symbol der Verbindung, der Reinigung. Der verbrannte Text ist bizarrerweise der ewigste von allen.

Aber nun zu etwas ganz anderem. Vladimir Nabokov. Es gibt Autoren und Autorinnen, die man „schätzt”, die einem „etwas geben”. Es gibt solche, nach denen man „süchtig” wird, und andere, die einen an- oder aufregen, zu denen man immer wieder zurückkehren, die man immer wieder neu entdecken, die man gern mit anderen Lesern teilen möchte. Und so weiter. Aber dann gibt es eben auch Autoren, die man nur als Kult annehmen kann, die man zugleich erhöht und adoptiert, denen man sich so unbedingt unterwirft, dass man noch die Poesie ihrer Einkaufszettel und die Harmonie bewundert, mit der Zahnputzglas und Seifenschale im Waschbeckenregal geordnet sind.

Ich erinnere mich beispielsweise an einen Besuch in Vladimir Nabokovs Geburtshaus in St. Petersburg, wo nur wenige Menschen, bei freiem Eintritt übrigens, sich mit umso größerer Ehrfurcht um ein paar Möbelstücke, einige Schriftstücke und, natürlich, Schmetterlingskästen bewegten, und da war dieses Knarzen der Diele, die für heutige Begriffe unnütz breite Straße zwischen den Wohnhäusern eines längst untergegangenen Bürgertums. Es gibt offensichtlich Autoren, die nicht in ihren Texten verschwinden, sondern umgekehrt auch noch eine Textspur an realen Orten hinterlassen, als müsste, wie in den Prager Gassen, die man auf Kafkas Spuren durchwandert, gerade der radikalste Text sich noch an einem allerkonkretesten Leben festmachen lassen. Je radikaler der Text, desto ausgeprägter offenbar unsere Sehnsucht nach dem Lebensort seines Urhebers.

Und so genügt uns nicht das Fragment eines Textes. Wir wollen etwas zum Anfassen. Wenigstens etwas, das man beinahe anfassen kann.

Aber nun zu etwas ganz anderem. Der Roman „Das Modell für Laura (Sterben macht Spaß)” war in den Jahren vor 1977, in der Zeit vor Vladimir Nabokovs Tod, im Entstehen begriffen. 138 Karteikarten (im Buch dankenswerterweise abgebildet) sind vorhanden, einige als zusammenhängende Erzählung, andere skizzenhaft notierte flash forwards, wieder andere als handwerkliche Notizen.

Dimitri Nabokov, der Sohn des Autors, der sich schließlich trotz etlicher innerer und äußerer Widerstände entschied, die Fragmente gegen den Willen des Vaters zu veröffentlichen, beschreibt den Plan des Werks so: „Bei ‚Das Modell für Laura’ handelt es sich um die vertrackt komplexe Geschichte eines weltberühmten Neurologen namens Philip Wild – fett, gelehrt, um seine Füße besorgt und mit der jungen Flora verheiratet, die Gegenstand eines meisterlichen Schlüsselromans (‚kiss-and-tell’ – küsse und rede darüber) mit dem Titel ‚Meine Laura’ geworden war. Da er nicht nur Wissenschaftler, sondern auch Schriftsteller ist, arbeitet Will insgeheim an einem Werk, in dem er seine ekstatischen Experimente mit dem Tod beschreibt, nur um von einem gewissen Dr. Aupert – jung, sonnengebräunt und aufgeräumt – zu erfahren, dass er ernstlich krank ist.”

Natürlich ist in einem Textfragment, das seinen Bauplan höchstens andeuten kann bzw. sich von Kennern und Eingeweihten erklären lässt, nicht alles klar, was zu den beliebten Vor- und Nachworten, den Anmerkungen und editorischen Notizen führt. Und so kann man sich an Sätzen wie diesem erfreuen, einem der Schmetterlingssätze Nabokovs, die dem Verwirrspiel der unzuverlässigsten und verführerischsten Prosa noch den Rest der Konstruiertheit austreiben: „Die Party schien zu einer Menge nüchterner Augen verkommen zu sein, die sie mit gemeinem Mitleid von jeder Ecke, jedem Kissen und jedem Aschenbecher aus anstarrten, sogar von den Hügeln der Frühlingsnacht her, die von der offenen Fenstertür umrahmt war.”

So ein Karteikarten-Fragment zu lesen, eingedenk der Tatsache, dass Nabokovs Texte ansonsten in einer Art „fertig” sind (geschlossene literarische Räume, aus denen wieder herauszukommen schwieriger ist, als in sie hineinzugelangen), dass es genügend Leute gibt, die sie nicht nur als Vollendung eines Autors, sondern (traurigerweise) der Literatur überhaupt verstehen, hat etwas sehr Intimes.

Autor: Georg Seeßlen

Text veröffentlicht in Jungle World, Nr. 50 vom 10.12.2009


Vladimir Nabokov: Das Modell für Laura: Sterben macht Spaß

(Gebundene Ausgabe), Rowohlt, Reinbek (10. November 2009), 318 Seiten,

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Das Modell für Laura Romanfragment auf 138 Karteikarten Kartenset in Extrakassette, beides im Schuber

(Gebundene Ausgabe), Rowohlt, Reinbek (10. November 2009), 320 Seiten,

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