Brian Wilson Aldiss, das ist einer von den Schriftstellern, die alle Höhen und Tiefen eines Science Fiction-Autors erlebt haben: Sperrige Meisterwerke, die keine Sau lesen will, Genrefutter, um die Rate fürs Eigenheim zu zahlen und dazwischen der eine oder andere Klassiker nach den Regeln des Genres und vielleicht auch an ihren Grenzen. Nebenbei Ausflüge in die Autobiographie, in die Mainstream-Literatur, in die Lyrik. Mit „Barefoot in the Head“ handelte er sich den Ruf eines James Joyce auf Acid in der SF ein. Welcher Fan von Raumschlachten und Superrobotern goutiert schon einen Roman, der mit Gedichten durchsetzt und antilinear ist und vor allem aus Sätzen wie diesem besteht, der ins Deutsche übertragen ungefähr so lautet: „Er richtete sich beschmutzt auf und um ihre menschlichen Schultern zogen sich Schals des Nebels sepiafarben zurück, obschon unterirdisch die neuen bleischwärenden Tiere in Obskurität rotterten und furchtelten“.
Es sind drei Elemente welche die meisten der immerhin mehr als dreihundert Werke von Brian W. Aldiss bestimmen: Eine Philosophie der kulturellen Entropie, die Suche nach dem Überleben in Gesellschaftssystemen, die angelegentlich mit dem eigenen Rückbau beschäftigt sind. Ein autobiographischer Strang, genährt vor allem durch die Traumata der englischen Erziehung, in der man für einen „Phantasten“ wie ihn nur die doppelte Ration Prügel kennt (kaum ein Roman – und auch „Terror“ ist da keine Ausnahme – kommt ohne eine Schilderung von Prügelstrafen und ihre Auswirkung auf die kindliche Psyche aus), und Aldiss’ Zeit beim Militär in Burma und Indonesien, die eine tiefe Abneigung gegen Befehl und Gleichschritt hinterließ. Und schließlich ein ungewöhnlich hoher Grad der Genre- und Sprachreflexion. Mit seiner Theorie der Science Fiction, in „Million Year Spree“, hat er sich nicht nur Freunde gemacht. Seine Kernaussage, sehr verkürzt natürlich: Science Fiction ist nichts anderes als der spätromantische Schauerroman, der auf die Industriegesellschaft projiziert wird. (Das tendenzielle Verschwinden der Science Fiction in der postindustriellen Kultur mag seine These stützen.) Oder noch einfacher, und für einen Zornausbruch bei den Vertretern der Hard Science Fiction gut: „Science Fiction ist so wenig für Wissenschaftler geschrieben wie Gespenstergeschichten für Gespenster geschrieben werden“. Verkürzen wir die Sache noch einmal: Science Fiction, das sind die Gespenstergeschichten des Industriezeitalters.
Und wie es mit Gespenstergeschichten ist: Es geht um irreale Erscheinungen sehr realer Probleme. „Ich war immer dankbar für den Schutz, den das Science Fiction-Genre bietet“, schreibt Aldiss im Nachwort zu seinem Roman „H.A.R.M“, der in der deutschen Übersetzung schlicht „Terror“ heißt. Das Genre, auch bei ihm, ist ein Schmuggelpfad.
H.A.R.M. ist die Abkürzung für „Hostile Activities Research Ministry“. Und in die Fänge dieses furchtbaren Instruments im „Krieg gegen den Terror“ ist der „Gefangene B“ geraten. Paul Fadhil Abbas Ali, ein Schriftsteller aus London, wird in einem Syrischen Lager (vielleicht ist es aber auch ein geheimes Gefängnis in London) verhört und gefoltert. Seine Vergehen: Er hat muslimische Vorfahren aus Indien, und er hat satirische Texte geschrieben; und in einem davon unterhalten sich zwei Betrunkene ironisch über die Ermordung des Premierministers. Folter, Hunger und Einsamkeit entkommt Paul in eine andere, imaginäre Welt, Stygia, ein ferner Planet, auf dem Menschen gelandet sind, nur um dort wieder in ein finsteres Mittelalter zurück zu fallen.
Die klassische Science Fiction handelte von Gespenstern in der Industriegesellschaft: Aliens und Androiden, kranke Ideen und böse Maschinen bedrohten den Fortschritt, im Aufbruch zu den Sternen steckte der Erdenwurm. Umso wichtiger war es, Zukünftigkeit zu erzwingen, und sei’s als postapokalyptische Hoffnung auf Neubeginn. In der New Wave (zu der Aldiss Etliches beigetragen hat) und in der Idee des „inner space“ steckte der Wahrnehmungsbruch zwischen Individuum und Gesellschaft. Keine new frontiers mehr, stattdessen Cyberspace und Verschwörung: Science Fiction erzählte damals von Drogen, Computern und von Vietnam.
Nun aber erscheint das Herrschaftssystem selber unrettbar gespenstisch. Nur einerseits nämlich schließt sich mit „Terror“ ein dystopischer Kreis zu Orwells „1984“. Andrerseits löst sich in Aldiss Geschichte auch die Grundlage des Erzählens selber auf: Als innerer Ausweg flüchtet der Gefolterte in eine Phantasiewelt, die von Miltons „Paradise Lost“ inspiriert ist: „The Stygian council thus dissolved; and forth/in order came the grand infernal peers“. Die SF-Geschichte, komplett mit Sternenreise und „Rekonstitution“ der molekular zerlegten und in einer „Lebenswiederaufbereitungsanlage“ wieder zusammen gesetzten Menschen auf einem fernen Planeten, führt in Wahn, religiösen Terror, Verschwörung und Rassismus. „Jesus Christus hat diesen Planeten nur für kurze Zeit besucht, ihn wieder verlassen und ist niemals zurückgekehrt“. Das ist hier keine Sehnsucht nach Erlösung, sondern Grundlage einer Terror-Religion. Und die ernüchterte Erkenntnis auf der anderen Seite: „Die Gegenwart ist schon ohne Jesus Christus schlimm genug“. Das Schiff, das die Menschen in eine Ferne geführt hat, die sich als nichts anderes als das eigene, finsterste Mittelalter erweist, heißt nicht zufällig „New Worlds“, nicht nur wie ein Aufbruchsmotto, sondern auch wie der Titel jener SF-Zeitschrift, die das Genre in den siebziger Jahren erneuerte.
Die Krankenakte führt seine Peiniger schließlich zu Pauls Schwachpunkt: Man hat ihm „multiple Persönlichkeiten“ attestiert. Das heißt unter anderem: Flucht aus Realität in Phantasie führt im Kreis herum. Und es ist die „phantastische“ Welt von Stygia am Ende nicht unwahrscheinlicher als die reale Welt. In der dritten (und vermutlich letzten) Phase der Science Fiction geht es um Systeme, die ihre eigenen Monster kreieren. Ein „Außenweltliches“, Fremdes, Zukünftiges gibt es nicht mehr.
Tückischerweise führt Aldiss die drei Ebenen der Fiktion, Pauls wirkliches Leben, Pauls Roman und Pauls Phantasiewelt wieder zusammen. Gemeinsam sind sie unausweichlich. Was die „Waabiten“ von Stygia als ihr großes Projekt ansehen, die Auflösung der Moderne und die Erzählung der Geschichte nach Rückwärts, das geschieht schließlich auch in Pauls und in unserer Wirklichkeit. Aus der Verteidigung der Demokratie gegen den Terror ist ein Terror-Regime geworden, das nicht einmal mehr Parallelorganisationen wie HARM braucht, sondern den Terror – „gefährliche Gedanken schon im Keim ersticken“ – selber zur Staatsräson erhebt.
Die industrielle Gespenstergeschichte als Spiegel der aktuellen Wirklichkeit, das ist nicht ganz neu. Aber Aldiss führt die doppelte Fabel mit einem grimmigen Ernst durch, und von Beginn an verweigert er den Erlösungsanspruch der Fiktion: Fremant, Pauls alter ego auf dem Planeten Stygia, kann sich weder materiell noch moralisch retten. Es ist eine hässliche Doppelgeschichte, und Aldiss, der Sprachkünstler unter den SF-Autoren, versucht sich kunstvoll an einer „hässlichen Sprache“. Letztendlich geht es nicht mehr um den heroischen Kampf des Einzelnen gegen ein terroristisches System, sondern um die Zersetzung des menschlichen Innenlebens durch Folter und Krieg. Die schlimmste Anti-Utopie: Es gibt keine Fluchtmöglichkeit mehr. Nicht einmal mehr die Flucht in die Phantasie, die Flucht in die Sprache, die Flucht in die Science Fiction.
Brian W. Aldiss hat immer noch die eleganteste Art, den dystopischen Holzhammer im Genre zu schwingen. Vielleicht ist „Terror“ ganz einfach der letzte Science Fiction-Roman. Die Gegenwart, sagt er, ist auch ohne Gespenster schlimm genug.
Autor: Georg Seeßlen
Text: veröffentlicht in konkret, 11/2009
Bild: Terror (Broschiert), Originaltitel: Harm
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