Düsseldorf zeigt Caravaggio, den Erfinder der modernen Kunst. Eine Huldigung.
Der Kerl hatte offensichtlich ein aufgeregtes Leben. Voller Lust und Zorn scheint er sich in die Gefahren gestürzt zu haben, zwischen den Palästen und den Hinterhöfen, zwischen einflussreichen Gönnern oben und wüsten Kumpanen unten, zwischen dem Spiel, der Sexualität und der Arbeitswut, um dann ermordet zu werden, mit nicht einmal vierzig Jahren, am Strand nördlich von Rom, in einem Niemandsland, wo in Italien seit je die heiligen Sünder umgebracht werden – Wilma Montesi, das »reine Geschöpf« in den Händen der aristokratischen Lustgreise des postfaschistischen Wirtschaftsbooms, oder Pier Paolo Pasolini, der Künstler auf der Suche nach seinen »ragazzi di vita«. So ein Leben aus Lust, Revolte, Flucht und Kampf ist für uns in der Regel hinreichender Grund für das Rollenmodell einer künstlerischen Außenseiterposition: Diesem Rauf- und Saufbold kann es schließlich nur um die Unabhängigkeit seiner Person und seiner Kunst gegangen sein. Der Rebel Hero par excellence.
So einer kann nicht anders, sagen wir gerne, als frei sein zu wollen. Und so sehen wir ihn auch in der großen Caravaggio-Ausstellung, die gerade in Düsseldorf angelaufen ist: ein wüstes Genie. Nur so einer kann Künder des Subjekts sein. Unserer letzten Hoffnung.
Es ist der Hitchcock-Trick: Wer hinschaut, verliert seine Unschuld
Caravaggio malt das Begehren. Nicht Objekte oder Subjekte des Begehrens allein, nicht nur Situationen des Begehrens, sondern das Begehren selber. Wie macht man das? Zum Beispiel, indem man das Bild rigoros aus den Zwängen der Repräsentation befreit. Dazu reicht es manchmal, einen Tisch zu verrücken. In Caravaggios Gastmahl in Emmaus steht der beladene Tisch nicht mit der Längsseite, dem üblichen Bühnenaufbau folgend, sondern mit der Schmalseite zum Blick. Jetzt kommt es nicht mehr darauf an, wie sich die Personen zueinander positionieren, jetzt kommt es darauf an, wie sie sich zueinander verhalten. Was sie voneinander wollen. Und wie viel Wein sie getrunken haben. (Der Obstkorb steht schon riskant über der Tischkante; eigentlich müsste er uns längst vor die Füße gefallen sein.) Caravaggios Bild stellt nicht dar, es springt den Betrachter vielmehr direkt an. Es öffnet den Raum zu merkwürdigen Spielen und Spiegelungen. Isaak, drauf und dran, von seinem Vater geschlachtet zu werden, schaut gerade dich an, der du dir das wüste Bild ansiehst, und noch in seiner Angst liegt Verführung.
Man sieht ein Caravaggio-Bild nicht, ohne Täter oder Opfer zu sein; es ist der alte Hitchcock-Trick: Wer hinschaut, kann Unschuld nicht mehr behaupten. Das Schlangenhaupt der Medusa, blutig vom Rumpf getrennt; auch sie: tot und nicht-tot, Bild und mehr noch Blick auf etwas, das unterhalb von ihr und von uns liegt, der verhängnisvolle Spiegel oder der letzte Schritt einer unmöglichen Annäherung. Es sind dieselben Blutfäden, die in Judith und Holofernes aus dem Hals des Enthaupteten treten, als wollten sie eine letzte (ewige) Verbindung des Sterbens mit dem Leben herstellen (während Judiths Gesichtsausdruck von der schweren, barbarischen Arbeit des Tötens kündet). Caravaggio malt den Körper nicht als Seiendes, sondern als Geschehendes. Der geschehende Körper aber ist ein anderes Wort für Begehren und Verfall. Mord und Totschlag inklusive.
Weder hält das Bild den einen Augenblick für die Ewigkeit fest, noch holt es die Ewigkeit des Himmels auf Erden, vielmehr enthält das Carvaggio-Bild selber die Zeit, und das ist – von allem Lasziven, aller Grausamkeit, aller »Geschmacklosigkeit« abgesehen – wohl skandalös genug gewesen (und ist es immer noch). Wir können uns ziemlich gut vorstellen, warum der Kardinal Del Monte vor Caravaggios Obstkorb unter einem Weinkrampf zusammenbrach: vor einem Bild, das Obst in verschiedenen Zuständen der Verderbnis zeigt, vom Verfall, von Insekten, von Fäulnis bedroht. Der Tod war vordem das andere. Eine unerbittliche Gewissheit, aber nicht Teil des Lebens. Caravaggio malt die Zeit, und damit zeigt er vielleicht zum ersten Mal den Tod nicht als Ende, sondern als Teil des Subjekts.
Caravaggio also malt das Begehren in der Zeit, sein Begehren einerseits, das »homosexuell« zu nennen vermutlich schon wieder eine dieser bürgerlichen Rationalisierungen ist, seine Leidenschaft für die »ragazzi di vita«, die als Lautenspieler eine ganz andere Musik im Sinn haben, die von Eidechsen gebissen werden, die auch sonst im Schmerz Wollust empfinden und in der Wollust Schmerz, noch im kranken Bacchus (einem direkten Erfahrungsbericht des Malers). Es ist ein Begehren indes, wie sollte es bei einem Maler der Körper und der Gegenwärtigkeit anders sein, das um eine narzisstische Katastrophe kreist. In Caravaggios Narziß ist dieses heillose Verlangen nach sich selbst als dem anderen gewiss nicht mit einer Kinderei wie »Eitelkeit« zu verwechseln, und auch seine Reuige Magdalena lässt nicht einfach Schmuck und Parfum links liegen. Sie schließt die Augen und sinkt in sich zusammen.
Wenn man statt Bildern das Begehren und die Zeit malt, kann man sich mit Kleinigkeiten nicht aufhalten. Anatomie soll niemand studieren wollen in Caravaggio-Bildern; seine Körper suchen weder die heroische Pose, noch wollen sie einer naturwissenschaftlichen Klarheit gehorchen. Sie winden sich in all ihrer Ambiguität, drehen sich zugleich zu ihrem Gegenüber, zum Betrachter und in sich selbst hinein. Und was Caravaggio nicht interessiert, das malt er auch nicht. Er füllt seine Bilder nicht aus. Er wirft nicht diesen Rettungsanker im Zeit-Bild, das zum Beispiel im Hintergrund das Ewige, das Bestandhabende erscheinen lässt. Seine Fenster sind leere Lichtquellen, seine Hintergründe Begrenzungen: Die Welt ist alles, was das Subjekt betrifft. Es fehlen die großen Syntagmen. Caravaggios Himmel ist vergleichsweise leer. Das Begehren und die Zeit sind stets fast nackt. Ich fürchte, Caravaggios Bildwelt ist ziemlich gottlos. Seine Heiligen leiden ohne äußeren Beweis der Gnade.
Caravaggio holte sich seine Modelle von der Gasse, und nichts ist genussvoller in unserer Pulp-Fiction-Fantasie dieses Malers, als dass er eine Prostituierte ins Bild der Maria einbrachte. Auch das ist vielleicht mehr als eine provozierende und anrührende Füllung der Mythologie mit körperlicher Wahrheit. Da ist zum einen die große Paradoxie. Das Heilige mit den schmutzigen Füßen. Und nur Sünder können erleuchtet und erlöst werden. Zum anderen aber sind diese Gestalten, Vagabunden, Mörder, Götter oder Heilige, nicht im Diskurs der Herrscher und der Beherrschten gesehen. Wie erst wieder Pasolinis Figuren sind es Menschen, die an den gesellschaftlichen Code der Macht nicht reichen, die aber umgekehrt auch vom gesellschaftlichen Code der Macht nicht erreicht werden. Menschen jenseits der Klassen. Das Subjekt in seiner barbarischen Urform besteht aus reinem Begehren und reiner Zeit. Und es stirbt in der narzisstischen Katastrophe, sobald es sich entdeckt, im Bild zum Beispiel.
Fast schon ein Klischee: das »Filmische« im Werk von Caravaggio. Die Inszenierung der Bewegung, die immer schon auf eine nächste Einstellung verweisen würde, die Verwendung von »Führungslicht«, die »schauspielerische« Betonung von Gegenwärtigkeit, vor allem aber eine Form der Mise en Scène, die das Ganze einer Situation erfasst: Vergleicht man Caravaggios Bilder mit denen seiner Nachfolger, noch Jahrhunderte später, fällt der Rückfall ins Theatralische besonders auf. Jede Figur, bei Guéricault etwa, scheint ihr eigenes Drama aufzuführen, sich in der heroischen verzweifelten Geste von allen anderen zu isolieren. Bei Caravaggio ist alles aufeinander bezogen, es ist das Leben selbst. Und du gehörst dazu, tu nicht so scheinheilig.
Diese Bilder zeigen, was wir verloren haben. Das macht sie so aktuell
Aber die nächste Einstellung bleibt aus. Und das ist vielleicht das vierte Element in Caravaggios Konstruktion des Subjekts. Das Bild enthält nicht, was im nächsten Augenblick geschehen wird (und natürlich auch nicht, wasimmer geschehen wird). Selbst eine biblische Szene, deren Ausgang schließlich durch das Wort festgelegt ist, bleibt offen. Bei Caravaggio bin ich mir nicht sicher, ob Isaak wirklich gerettet wird. Ich bin mir noch nicht einmal sicher, ob die Augen des geköpften Goliath endgültig brechen oder sich erst wirklich öffnen werden. Die Ungewissheit des Bildes verbindet den radikalen Realismus des Körpers mit der mindestens ebenso radikalen Erfindung. Und das Bild hat sich zum zweiten Mal geöffnet, neben dem Raum nun auch in der Zeit.
So wie man sich fragen kann, was mit Caravaggio begann – vielleicht in der Tat nicht weniger als die moderne Kunst, wie es Berne-Joffroy sagt, die Suche nach dem Subjekt in der Welt –, so kann man sich auch fragen, was mit Caravaggio endete. Die Idee eines Ganzen vielleicht. Die direkte Erfahrung des Heiligen im Leben, nicht obwohl, sondern weil es schmutzige Füße hat. Nicht obwohl, sondern weil es vor Begehren zittert. Caravaggio, das ist der Bruch selber, der die Moderne von ihrem Zuvor trennt. Lustvoll zerschmettert das Subjekt das Weltpuzzle um seines Rechtes willen, nämlich Begehren und Zeit, und schmerz- und angsterfüllt, panisch reagiert es auf die zerbrochene und verschwindende Welt. Ich glaube, Caravaggio hat kein einziges »schönes Bild« gemalt. Und kein unwahres.
Kein Wunder also, dass Caravaggio wieder entdeckt wird, nicht weil er zeigt, was wir hätten werden wollen, sondern was wir verloren haben. Das Subjekt kehrt, bewundernd, fasziniert und ein bisschen schockiert, noch einmal zu seinen barbarischen Anfängen zurück. Um sich dann, erschöpft und bleich wie der kranke Bacchus, mit einem matten Lächeln aus der Geschichte zu verabschieden. Morgen ist wieder Alltag und Diskurs.
Autor: Georg Seesslen
Text veröffentlicht in DIE ZEIT, 21.09.2006 Nr. 39
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