„ ‚DOPPELBEGABTER’ = sehr schön. Aber immer noch besser als einfach unbegabt.“
Über Paul Stein zu schreiben ist deshalb so schwierig, weil er selbst so wunderbar unprätentiös-präzis über sich und die Welt geschrieben hat: Ein Künstler, der seine eigene Reflexion immer um sich hatte, sich unentwegt gegenwärtig mitgeteilt hat, in des Wortes ursprünglichster Bedeutung.
Darum also zuerst die Fakten: 1949 in Neuwied geboren, Sohn einer Winzerstochter und eines kleinen Fuhrunternehmers, 2004 in Moselkern gestorben, Grafiker, Maler, Schriftsteller, Chronograph, das alles aber nicht neben- sondern ineinander. So entstand ein gewaltiges Werk der fortlaufenden Bild-Text-Begegnung, an einem Ort, wo ein kleiner Bach, der Elzbach, in einen kleinen Fluss, die Mosel fließt (und wir wissen, wie das im Großen endet). Von allem ist dieses fortlaufende Werk, das nun vor allem im Klingspor Museum gepflegt wird, mehr: Mehr als ein Tagebuch, mehr als ein Skizzenbuch, mehr als das Log eines genau sehenden, montierenden und kommentierenden Künstlers: Neunzig Bände, über 19.000 Seiten. Man muss da hinein, und manchmal hat man gar keine große Lust auch wieder heraus zu kommen. Zeichnungen, Tusche, Farbe, Collage, mal ganz nah, mal distanziert, dazu das Geschriebene, in unterschiedlichen Schrift-Tonlagen, Eingeklebtes auch, Tag für Tag; das ist, was gute Kunst ausmacht, nebenbei, die Schaffung eines Mittelpunktes in der Welt. So ein Mittelpunkt, niemand weiß das besser als der Künstler selber, ist ungeheuer und instabil, er flickert in der Auseinandersetzung mit der Welt. Aber er ist da.
Es ist eine Kunst, die in die Zeit geht (nicht: mit ihr), die immer die Verbundenheit und die Distanz zugleich ausdrückt („Notizen beim Weghören“ nennt sich, was auf „Radioradau“ und „Fernseh“ reagiert), da finden sich Listen über Musik („als Soundtrack für mein Leben wählte ich Jimi Hendrix“) oder Fußball, sogar Einkaufslisten. Ein Leben, noch einmal, das ist, was gute Kunst ausmacht, das vormacht, dass es keineswegs einfach zu verschwinden gedenkt. In einer großen Familie aufgewachsen, katholisch und kinderlieb, Moseldorf und Welterfahrung mit dem LKW. Fußballspieler, beinahe Profi geworden, Torwart. „Bei Fahrten über’s Land“, so erinnert sich seine Lebensgefährtin Martina Helfenstein, „fand er zwanzig Jahre später noch jeden Fußballplatz wieder, auf dem er einmal gespielt hatte, er wusste noch den Spielstand in der Pause, in welcher Minute er das Gegentor rein ließ und ob er’s hätte halten können“.
1971 begann Paul Stein mit einer „Sonderbegabten-Aufnahmeprüfung“ das Grafik-Design-Studium an der Fachhochschule in Mainz. 1975 schloss er mit einer Arbeit über den mexikanischen Kupferstecher und Karikaturisten José Guadalupe Posada ab. Auch so einer, den man zu Lebzeiten kaum beachtete, und der heute, beinahe hundert Jahre nach seinem Tod, wie man so sagt, „Kultstatus“ hat. Noch so einer, der als Künstler „dem Volk“ verbunden blieb, und der von den akademischen, Kunstmarkt-orientierten, „bürgerlichen“ Szene verachtet worden war.
War es nicht immer so? „Kunst“ für die gehobenen Stände, „Unterhaltung“ für das Volk. Wie Posada ist auch Stein einer gewesen, der mit der Entdeckung der Kunst als Mittelpunkt seines Lebens, sein Herkommen und sein Leben nicht verleugnet hat. Mag er an seiner „Ungebildetheit“ und als Arbeiterkind auch gelitten haben, in einer Kunstszene zumal, die durch „1968“ auch nicht viel demokratischer geworden war. Das Land, im Sinne der Provinz wie im Sinne der mittelgebirgischen Landschaft, blieb seine Welt, der künstlerische Arbeitsraum, „das Atelier“, und der Lebensraum, „die Wohnung“, waren immer identisch. Er hat sich den prekären Weltmittelpunkt in seinem „Gekritzel“ geschaffen, und wollte damit zu „seinen Leuten“: „Wie Van Gogh wollte Paul Stein Bilder malen, die der Bauer sich in seine Bauernstube hängt. Und für genau den Bauern, den er überall, wo er wohnte, antraf, war van Gogh der Inbegriff des ‚verrückten’ Künstlers. Diskussionen über Kunst in den dörflichen Wirtschaften – denen Paul Stein nie aus dem Weg ging, die er gar suchte – begannen stets mit van Gogh und endeten oft mit Beuys, dem zeitgenössischen Feind-Bild. Mit jedem, dem er begegnete, sprach Paul Stein über Kunst und konnte nicht fassen, wie klein ihre Rolle im Leben der Menschen war“ (Martina Helfenstein).
Der Künstler und seine Klasse, das ist eine Tragödie (oder eine Farce, wie man es nimmt); die Gewohnheit beschreibt ein Picasso, der mit Bauern trinkt, und sich von Bürgern zahlen lässt, oder Andy Warhol, der sich erfindet, weit jenseits des litauischen Dorfes seiner Familie. Paul Stein wollte ein Künstler in seiner Klasse sein (nun ja, „Klasse“, ist auch ein etwas großes Wort).
Zeichnen und Schreiben, eben „kritzeln“, werden Paul Stein zum Leben selbst, zum Gefängnis wie zur Erlösung. Er stellt die Kunst nicht her, wie man sie im bürgerlichen Kunstbetrieb herstellt, er ist die Kunst. Wie schmerzhaft das sein kann, ist leicht vorstellbar, zumal wenn man zwar Menschen sehr direkt mit seiner Arbeit entzücken kann, aber keine Marke im Kunstbetrieb wird.
Zeichnen und Schreiben will auf etwas anderes, gemeinsames hinaus, auf das Zeichen, das die Aufhebung zwischen dem linearen Code der Sprache und dem visuellen Code der Kunst erreichen könnte (oder wenigstens seine Nicht-Erreichbarkeit bearbeiten). Nicht, dass es solche Versuch des „Alinearen“ nicht schon immer gegeben hätte, doch bei Paul Stein hat das nichts mit Ornament und Abstraktion zu tun, es ist ein Sammeln des Lebens, das nach der größten körperlichen Direktheit sucht. Das gewaltige Lebens- und Arbeitsbuch, primär aus einer „Notiermanie“ (Stein) entstanden, verlängert den semiotischen in einen biografischen Widerspruch. „Das Leben sammeln: Die alltäglichen Eindrücke ohne zu selektieren/zu analysieren ins Buch schreiben. Eventuell ohne Sinn und Verstand. Notfalls kann ich bei Bedarf auf das Festgehaltene zurückkommen. Im Grunde interessiert mich noch nicht einmal das“. Weil es gar nicht um ein Archiv geht, und nicht um die übliche Selbstrechtfertigung des Künstlers im Tagebuch, oder um sein Ideen-Museum/Feld im Skizzenbuch. Sondern um eine Kunst der Gegenwärtigkeit (auch der Vergangenheit); wenn man durch die Seiten der Lebens- und Arbeitsbücher des Paul Stein wandert (als Wanderung sollte man es am leichtesten und schönsten verstehen), dann hat man nie das Gefühl eines „Es war einmal“ sondern immer das eines „Es ist“.
Und wie es ist. „Bilder gegen den Irak-Krieg malt man am besten am Intellektuellen-Stammtisch“ (80/16 552). „Jubelnde Marines bei einer Bush-Rede, der mit Bomber-Jacke am Rednerpult stand. Männer herausgeputzt wie zur Hochzeit, mit glänzenden Augen und gehirngewaschen“ (80/ 16 570). „Im Radio wurde vermeldet, ein Maler habe sich in die Rückseite eines seiner Gemälde verliebt. Der Keilrahmen habe ihn an seine Frau erinnert, die ihn jedoch, nachdem er ihr dies gestanden hatte, verließ. Der Maler sank in eine tiefe Schaffenskrise: Er sei von allen guten Keilrahmen verlassen und es fiele ihm nichts mehr ein. Dem Maler wurde geraten, er solle zum Zeichnen übergehen. Wie vermeldet wurde, habe der Maler gesagt: ‚Zeichnungen sind mir zu flach’. (80/ 16 624) „Egozentrisch wie ich bin, geht es mir immer nur um mein Leben/meine Erfahrungen/meine Eindrücke von der Welt. Wobei ich das Ganze schnell aus den Augen verliere. Nachtblind. Dummerweise ist mir mein Leben selber so uninteressant, dass ich es als Künstler nicht auch noch verarbeiten mag“ (80/ 16 675). „Der Fußballer Michael Ballack sieht aus, als könne er in einer Daily Soap einen Fußballer spielen, der wie Michael Ballack aussieht“ (80 16 678). „Am Morgen beim Arzt zur Blutabnahme. Zwei alte Frauen, diesmal nicht über Krankheiten redend, sondern, vermutlich weil man an der katholischen Mosel lebt, ein Gespräch über Engel. Im April sagte eine der Damen, sei sie auf der Kommunion ihrer Enkelin gewesen und irgendwie wäre das nicht mehr wie früher: Die Kommunionkinder seien heutzutage keine Engelchen mehr, sondern fette Monster. Der nächste bitte.“(77/ 16 078)
Nur so zum Beispiel. Man sieht: Die Texte sind ein großer, stacheliger Genuss, der aber erst richtig groß und stachelig wird, wenn man sich auch in den Bildern von Paul Stein bewegt. Darum sollte man unbedingt einmal hin, an die mehr oder weniger katholische Mosel, um, wie gesagt, einen Mittelpunkt der Welt namens Paul Stein zu beobachten.
Zeichnen und Schreiben: Das ist ja, paradoxerweise, die völlig falsche Ordnung der Welt, und ihre völlig richtige Störung. Im Lebens- und Arbeitsbuch (nebst seinen Seitenstücken, den Spuren, die auch in die Winzerstuben führen, wohin Paul Stein so gern seine Kunst zurück gebracht hätte) ist die kreative Störung ein langer, unruhiger Fluss, der immer wieder zu sich selbst zurückkehren will, wie die Mosel, was aber nicht geht, weil Flüsse nicht im Kreis herum fließen können. Menschen auch nicht. Verhältnisse schon.
In Paul Stein kann man einen großen Künstler eines „kleinen“ Formats kennen lernen. Nichts ist bei dem triumphal und aufgeblasen, alles stimmig, manchmal drastisch, häufig auch hoch komisch. Traurig auch dabei, das kann gar nicht anders sein. „Weshalb sind Sie Künstler geworden?“ – „Mangelnde Anpassungsfähigkeit“ (81/ 16 870).
Text: Georg Seeßlen
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15. August 2010 um 11:27 Uhr
Paul machte den Westerwald durch seine Anwesenheit ein Stück reicher.
1. November 2011 um 10:30 Uhr
An dieser Stelle mal einen verspäteten Dank, Herr Seeßlen, daß sie mir Paul Stein entdeckten und so eine Wissenslücke füllten.
23. Juni 2015 um 00:55 Uhr
Es waren über 19.000 und nicht 1.900 Seiten.
25. Juni 2015 um 14:49 Uhr
thx
wir haben korrigiert – Danke sehr für die Aufmerksamkeit