Der schwarze Mann

Zitrone, Banane… Es war der „schwarze Mann“, der uns seinen Schatten in die Kindheit warf. Noch vor den Atombomben und Autounfällen. Neben Höllen-Drohungen im Religionsunterricht und Monstern in den Comics. Von ihm erreichte uns nur ein warnendes Raunen; das Schrecklichste an ihm war, dass er, wahrscheinlich, das Aussehen eines gewöhnlichen netten Onkels hatte. Er würde uns mit einer Tüte Bonbons in ein Auto locken, würde uns Spielzeug in seiner Wohnung versprechen, würde vorgeben, uns etwas ganz Schönes zu zeigen. Dieser böse Mann konnte überall erscheinen, auf dem Spielplatz oder auf dem Schulweg. Nur zuhause, das machte man uns klar, wären wir sicher.

Zitrone, Banane, an der Ecke steht ein Mann/Zitrone, Banane, der lockt die Kinder an/Zitrone, Banane, er nimmt sie mit nach Haus/Zitrone, Banane, er zieht sie nackig aus… Weiter weiß ich das Lied nicht mehr, ich weiß nicht einmal, ob es überhaupt weiter ging. Es gehörte zum Wesen des bösen Mannes, dass alles, was ihn betraf, irgendwo in Dunkelheit und Schweigen führte. (Auch der Film „M – Eine Stadt sucht einen Mörder“, auch die Graphic Novel „M“ beginnen mit einem Lied, das Kinder singen, halb provozierend, halb um die eigene Furcht zu bannen. Werden böse Männer durch Lieder angelockt?)

Die Lehrer zeigten uns, da auch sie nicht von der wahren Natur des bösen Mannes sprechen konnten, amtlich empfohlene Lehrfilme. In denen sahen wir feiste Hände, die Süßigkeiten aus den Türen von Luxusautos reichten, und wir sahen das blaue „Fußweg“- Schild, auf dem ein Mann mit einem Mädchen an der Hand davon geht. (Diesem Schild blieb der unheimliche Schauer dieser perversen Assoziations-Einstellung: Fußwege blieben uns ein so bedrohlicher Ort, dass wir sie mieden und zu natürlichen Verletzern der „Rasen nicht betreten“- Regeln wurden.) Der böse Onkel aber hatte nie ein Gesicht.

Worte wie „sexueller Missbrauch“ gab es damals noch nicht. Schon gar nicht die Vorstellung von einem elektronischen Netz, in dem Bilder davon kursieren könnten. Der schwarze Mann würde uns tot machen. Aber da musste noch anderes, Verbotenes sein, Zitrone, Banane. Klammheimliche Neugier, aber auch die Lust daran, die Erwachsenen zu provozieren, die vielleicht etwas verheimlichten, vielleicht aber auch nur dumm waren. Wie sollten sie uns beschützen vor einer Bedrohung, von der sie nicht sprechen und die sie nicht zeigen konnten? Keine Bilder, keine Worte. Zitrone, Banane.

So half wieder einmal das Kino, wo Schweigegebot und Bilderverbot herrschen. Im März 1960 wurde Fritz Langs „M – Eine Stadt sucht einen Mörder“ aus dem Jahr 1931 noch einmal herausgebracht, wenn auch in einer um fast ein Viertel gekürzten Fassung. Er schien, abgesehen von ein paar Anzügen und Schaufenster-Auslagen, moderner als das meiste, was wir sonst zu sehen bekamen.

Der andere Film, der vom schwarzen Mann erzählte, konnte davon unterschiedener nicht sein. Es war die Dürrenmatt-Verfilmung „Es geschah am hellichten Tag“, in dem Heinz Rühmann den besessenen Kommissar auf der Suche nach dem Kindermörder spielte, den Gert Fröbe als von einer furchtbaren Ehefrau (Berta Drews) gepeinigtes Riesenkind gab. Ladislao Vajda hatte den Film1958 gedreht, als deutsch-schweizerisch-spanische Koproduktion. Beide Filme waren natürlich für Kinder verboten. Aber direkt oder indirekt erreichten uns ihre Bilder doch.

Der böse Mann, das war offensichtlich ein Getriebener, einer der nicht anders konnte (übrigens schwer vorstellbar anders als in schwarz-weiß), ein kindisches Monster, eine Nicht-Person. Peter Lorre und Gert Fröbe hatten auf sehr verschiedene Weise die Unschuld des Bösen berührt. Der eine, dieser kleine, glubschäugige, feiste und doch auf seltsame Weise elegante Mann, der von einer Melodie begleitet wird, „Peer Gynt“, das Motiv aus der Geschichte vom Bauernsohn, der sich durch die Welt treibt als Lügner und Verbrecher. Am Ende versucht sich Peer Gynt, beim letzten Kampf um seine Seele, damit zu verteidigen, er sei wie eine Zwiebel, er habe „viele Häute, aber keinen Kern“.  Kein Ich, nirgends. Die Musik hat diesen schwarzen Mann schon halb verraten.

Und der andere: Ein massiger Mann von ungeschlachtem Benehmen, ganz und gar am falschen Ort und wie im Gefängnis im reichen Haus seiner Frau. Einer, der sich so sehr zu viel ist, wie sich der Peter Lorre aus „M“ zu wenig ist. Ein körperlicher Tick begleitet ihn, er reibt seine Hände, wenn dieses „Es“ wiederkommt, das auch der Beckert aus „M“ so benennt. Als wären nun die beiden bösen Männer aus den Märchen getreten, um die Leerstelle zu füllen: Der Zwerg und der Riese.

In „Es geschah am hellichten Tag“ blieb freilich der böse Mann eher außen vor. Wir jagten ihn mit dem Kommissar und wir bangten um das Mädchen, das dieser als Lockvogel benutzte. Nicht dem Mörder galt die Aufmerksamkeit hauptsächlich, sondern der merkwürdigen Besessenheit des Polizisten, der ihn nicht fangen kann. Auch „M“ erzählt mehr als vom Täter von der Jagd auf ihn, aber der Film war da schon wesentlich komplizierter, man zieht uns da ja nicht umsonst in eine Verhandlung gegen den Untäter hinein, und auch wenn die, statt vor einem öffentlichen Gericht, vor einem Tribunal der Unterwelt stattfindet, muss man doch das Problem sehen, das im Juristendeutsch dann „Schuldfähigkeit“ heißt. Kann das Monster etwas dafür, dass es ein Monster ist? Oder versteckt ein Mensch sein böses Begehren hinter der Inszenierung seiner Monstrosität? Und in die Frage nach dem freien Willen, der Verantwortlichkeit, nach dem sozialen und dem moralischen Sinn der Strafe mischt sich das Hitchcock’sche Spiel mit der Identifikation. Bangen wir etwa, wenn auch nur für ein paar Einstellungen, mit dem Mörder? Für einen Augenblick führt der Weg in die Seele des Mörders. Vor allem aber führt er in die Stadt, die den Mörder sucht. Unter anderem, weil sie ihn hervorgebracht hat.

Und darum wurde aus dem Schwarz-Weiß von „M – Eine Stadt sucht einen Mörder“ immer mehr ein Ineinander von verschiedensten Grautönen, während „Es geschah am hellichten Tag“, der sehr grau beginnt, immer mehr ein Schwarz-Weiß-Film wird.

Architektur & Zirkus

Fritz Lang, so sagt man, habe die Objekte und Architekturen mit großer Zärtlichkeit gefilmt, und die Menschen dagegen wie Dinge behandelt. In seinen großen Stummfilmen jedenfalls, in „Die Nibelungen“, „Metropolis“ und „Die Frau im Mond“, spielen Räume, Bauten und Techniken die Hauptrolle. Das Ornamentale in diesen Filmen macht noch heute staunen, auch weil man weiß, dass man es im Zeitalter der Compter Aided Imagery in solcher Materialität nicht mehr wiederholen kann.

In seinem ersten Tonfilm allerdings wollte der Regisseur einen neuen Weg beschreiten: „Nach den großen Fresken interessierte ich mich für menschliche Wesen, für die Beweggründe ihrer Handlungen“. Und diese Frage stellt sich zweimal auf ganz unterschiedliche Weise, einmal in Bezug auf den Täter, der seinen mörderischen Trieb als einen äußeren Zwang beschreibt, so, als wäre er selber noch einmal hinter sich, gejagt vom eigenen Dämon, und einmal in Bezug auf die Vertreter der sozialen Ordnungen, der Polizei und der Gangster, die ein Interesse an seiner Verfolgung haben. Zwei Formen von Gewalt. Natürlich ist der Kindermörder viel schrecklicher, aber Angst machen auch die Organisationen der Gangster und der Polizisten. Dazwischen aber gibt es kaum „unschuldige“ Opfer, abgesehen von den Kindern selbst, sympathisch oder wenigstens vertrauenerweckend erscheint hier kaum jemand. (Das ist, was das skandalöse Sujet des Films anbelangt, vielleicht sogar notwendig, denn mit mehr Empathie wäre die Bedrohung vielleicht einfach nicht mehr auszuhalten.) Extreme Formen des Menschlichen und des Gesellschaftlichen, Gier, Wahn, Interesse, Hysterie, Korruption. In eine Beziehung zueinander gebracht, wie es nur dieser Filmemacher konnte. Also nicht nur eine Beziehung der Geschichte und der Personen, sondern auch eine Beziehung der Zeichen.


M – Eine Stadt sucht einen Mörder (Graphic Novel von Jon J. Muth, nach dem Fritz Lang Film; Cross-Cult Verlag)


Er entstamme, so Fritz Lang, „einer durchaus bürgerlichen Familie als einziger Sohn des Architekten Anton Lang und meiner im mährischen Brünn geborenen Mutter Paula“. Der Vater wird durch den Beruf beschrieben, die Mutter durch das Herkommen. Das betont schon wohl die beiden Wurzeln: Eine väterliche Seh- und Konstruktionsweise, das Architektonische, das streng Geordnete, das Gegliederte, das Fritz Lang auch als Regisseur immer verwendet hat, manchmal durchaus obsessiv. Und eine mütterliche Heimat, die für immer im Ungefähren bleibt. Aus böhmischen Wäldern, in denen man sich schaurige Geschichten erzählt.

Bald schon ist Lang „durchgebrannt“ vom „gutsituierten“, aber offensichtlich beengenden Elternhaus. Er kommt von Wien nach Berlin, um seiner „wahren Berufung“, der Kunst, zu folgen. Dazwischen liegen Abenteuer in Holland, Belgien, Afrika: Er ist Zeichner, Kunstschütze, Conferencier im Zirkus. Den Krieg erlebt er als Freiwilliger im österreichischen Heer. Auf die allerdirekteste Weise erlebt er dabei den Zusammenbruch eines großen Reiches und seiner Ordnungen. Fritz Langs Filme sind Filme über den Zusammenbruch der bürgerlichen Welt.

Das Chaos und die Ordnung, Schicksal und Entscheidung, das sind „ur-filmische“ Probleme, aber niemand behandelt sie in jeder einzelnen Einstellung so fundamental wie Fritz Lang. Sie sind, genauer gesagt, nicht nur im Film „behandelt“, sie sind der Film selber. Chaos und Ordnung sind die Bild-Elemente, die Lang immer wieder neu organisiert. Das geht wahrscheinlich nur, wenn man den Konflikt tief in sich selber hat. Eine Art innerer Zirkus, einstürzende Bauten der Seele. Und niemand kann die faszinierende Fremdheit einer Stadt so deutlich zeigen. Sie ist Raum und Kulisse, und was hier geschieht, vollzieht sich gern in Form von „Auftritten“. Der Gangster in „M“, wie auch der Polizist, liebt solche Auftritte.

Fritz Lang schreibt zunächst für den Film, Geschichten, die für dieses Medium nicht historisch und nicht seelisch, sondern räumlich gegliedert sind, vom wuchernd organischen Unten, aus dem die geheimen Mächte des Bösen steigen, in die klaren, aber fragilen Bauten nach oben. Das ist pure Kolportage und bleibt es auch in der Zusammenarbeit mit seiner Schreibpartnerin und Ehefrau Thea von Harbou. Teutonische Pulp Fiction, voller Verschwörungen, Intrigen und Maskeraden. Einerseits. Andererseits macht Lang schon als Autor und dann erst recht als Regisseur etwas ganz anderes daraus. Eine Art Bildermusik.

Nie wird ihn diese Gliederung der Welt auch in seinen Bildern und den Bewegungen darin verlassen, die väterlichen Architekturen über dem mütterlich mährischen Schoß, und beides, die Bauten in den Himmel hinein und das Geschlecht in der Tiefe, ist endlos zu erforschen und endlos suggestiv. Langs Filme, das ist auch die Darstellung der Seele nach Freud: Das ES (das bewusstlose Begehren), das ÜBER-ICH (die drohende, strafende Instanz) und das ICH (die freie, entscheidende Person). Nur dass bei Lang, anders als, sagen wir bei Hitchcock, diese seelischen Instanzen nicht in einzelnen Personen ausgedrückt sind, sondern in den Ornamenten, die sie bilden (immer wieder: der Kreis, das Rechteck, die Spitze, und immer wieder: das Element, das diese geometrische Figur durchbricht). Eine „Bildsprache“ nennt man das wohl. Jedenfalls weiß man nach ein paar Einstellungen: Wir sind in der Fritz Lang-Welt aus Zirkus und Architektur.

Wo ES war, soll ICH werden! Sagt Freud. Schön wäre es. In der Verhandlungs-Szene schreit der Mörder heraus, dass er nicht Ich hat werden können. Deswegen kann er nicht verantwortlich sein, für das, was er tat. Und das ÜBER-ICH, doppelgesichtig Gangster und Polizist, sagt nur: Das muss weg, eliminiert, ausgerottet werden. Insbesondere der Schänker, den Gustav Gründgens gibt, spricht da Sätze, die verdächtig nach den Nazis klingen, vor denen Fritz Lang in seinem nächsten Film, dem „Dr. Mabuse“, warnen wollte. Es ist der prekäre Moment, wo der Mörder zum Ausgestoßenen wird, so wie er vorher seine Opfer gesucht hat unter den Kindern, die den Kreis verlassen haben. Da ist uns klar, dass die Stadt, die den Mörder sucht, nur die architektonische Überhöhung des Mörders sein kann, der das Opfer sucht.

Das Modell aller Fritz Lang-Filme: Das Interesse des architektonischen und sozialen Raums im Widerspruch zum Begehren und zur Deformation der Körper (und Seelen). Früher oder später wird in jedem Lang-Film das Gebäude, die Stadt, die Technik von menschlichen Körpern „überflutet“, früher oder später geht der Körper an der Stadt oder die Stadt am Körper zugrunde. ES und ÜBER-ICH prallen aufeinander. Und ICH kann und kann nicht werden.

In „M – Eine Stadt sucht einen Mörder“ hat Lang diese beiden Elemente von ihren äußersten Enden her beschrieben: Das körperliche Begehren und die seelische Deformation in ihrer furchtbarsten Art, in der des „schwarzen Mannes“, und die Stadt als soziales System, als Aktionsgebiet von Männerbünden. Die Frauen, wir haben es am Anfang gesehen, sind verhärmt, allein gelassen, sie gehören der Fritz Lang-Stadt gar nicht wirklich an.

Aber wo ist der Autor? An der Oberfläche hat Fritz Lang so etwas wie einen „Aufklärungsfilm“ im Sinne gehabt, eine Mahnung, die am Ende ganz direkt und ein wenig aufgesetzt noch einmal formuliert wird: Man soll auf die Kinder besser Acht geben. Aber wir haben im ganzen Film niemanden gesehen, der das könnte oder wollte. So wäre, ziemlich tückisch, in dieser Aufforderung auch eine ganz andere verborgen: Um die Kinder zu schützen, müsste sich die Gesellschaft ändern.


M – Eine Stadt sucht einen Mörder (Graphic Novel von Jon J. Muth, nach dem Fritz Lang Film; Cross-Cult Verlag)


Aber Fritz Lang ist noch viel tiefer involviert; er ist Verfolgter und Verfolger zugleich, lässt uns Suspense, Schrecken und Mitleid an ganz unterschiedlichen Orten und mit ganz unterschiedlichen Personen erleben. Dauernd ändert man die Perspektive, identifiziert sich mit der einen oder der anderen Partei, um sich dann gleich wieder erschreckt zu distanzieren. Man möchte „das Monster“ zugleich verurteilen und kann es nicht in dem Maße, wie es sich das Gericht der Gangster vorstellt; man möchte sich der Rationalität der Verfolger, der Polizei wie der Unterwelt, anschließen und nur noch hoffen, dass der Unhold beseitigt wird, und man kann auch das nicht zur letzten Konsequenz. Die Irritation wirkt weiter.

Reenactment

„M“ von Jon J. Muth ist nicht nur eine malerische Umsetzung des Stoffes in die Form eines mehr oder weniger fotorealistischen Graphic Novel, die vierteilige Serie geht vielmehr zunächst auf eine fotografische Nach-Inszenierung zurück. Für den künstlerischen Prozess ist dieser Zwischenschritt viel mehr als nur ein „Hilfsmittel“ zur Erzielung möglichst natürlicher Mimik und Gestik, es ist auch eine Form von Aneignung und Bewusstsein. Ein fotografisches Reenactment, bei dem zugleich die Personen und der Plot und die Einstellungen und Auflösungen der einzelnen Film-Szenen erprobt und „untersucht“ werden.

Wir wissen zunächst, dass es, bevor der malerische Prozess Stimmungen und Zeitkolorit erzeugt, heutige Menschen sind, die in die Rollen des Films „M“ schlüpfen. Schon dies ergibt eine ganz eigenartige, expressive Wirkung. Das „Reenactment“, das zunächst entwickelt wurde als ein Nachspielen oder eine „Wiederbetätigung“ als Mittel zur historischen Erkenntnis (also: Wir wollen nicht nur wissen, welche Instrumente sich Menschen der Bronzezeit geschaffen haben, wir wollen auch wissen, wie sie sich gefühlt haben, wenn sie sie benutzten), ist eigentlich ein genuin filmisches Mittel. Der Philosoph Robin George Collingwood schlug das Reenactment als „Konzept der Wiederbetätigung als allgemeinen Modus des Verstehens“ vor. Und wenn Collingwood behauptet, wir könnten Geschichte nur verstehen, indem wir sie als „Wiedererleben“ in uns erneuern (was gewiss über das übliche Ritterspiel und Nachstellen berühmter Schlachten hinausgeht), so könnte man auch behaupten, man könnte Geschichten nur verstehen, indem wir sie „wiedererleben“.

Jon J. Muth also hat seine Freunde weniger als Schauspieler oder gar Charaktere eingesetzt, sondern als Subjekte des Reenactmens. Das heißt, es geht nicht darum, so zu blicken, wie Peter Lorre in Fritz Langs Film „M“ geblickt hat, sondern es geht darum, zu schauen, wie ein ertappter Mörder schaut. Es geht um fundamentale Ausdrucksformen in bestimmten Situationen, die in diesem Zusammenhang nicht von der Geschichte, sondern von einem Film und seinem Plot (aber eben auch von der Geschichte seiner Wirkung) vorgegeben werden. Das ist, nebenbei gesagt, auch eine sehr intime und eine sehr körperliche Angelegenheit, was sich dementsprechend direkt auch in die Bilder selber fortsetzt: Während des „Lesens“ der Graphic Novel hat man das Gefühl sehr persönlich, sehr nahe, sehr subjektiv in das Geschehen einbezogen zu sein: Vielleicht ist man sogar selber Teil eines psychologischen Reenactments. Fritz Langs Film wird also nicht „nachgemalt“, sondern erst einmal nacherlebt.

Das Fotografische ergibt dabei eine Kontinuität der Personen, ganz ohne jene selbst bei großen Comic-Zeichnern unvermeidlichen kleinen Abweichungen in der Physiognomie und ganz ohne den naturgemäßen Hang zur Karikatur. Auf diese Weise ist das Filmische in die Graphic Novel gerettet, und dies glücklicherweise ohne dass man auf ein direktes Zitieren der Film-Personen zurückgreifen müsste. Die Grundlage der Graphic Novel „M“ ist nicht der Film „M“, sondern ein fotografisches Remake, oder eine als Abfolge von Stills inszeniertes Reenactment (danach folgte eine zeichnerische Bearbeitung, bevor die endgültige, die malerische Form entstand).

Der malerische Prozess nun, mit dem die fotografische Realität bearbeitet und in den Zusammenhang der Handlung und der Architektur gestellt wird, überträgt Stimmungen und Atmosphäre und erzeugt dabei auch eine gewisse Autonomie der Einzelbilder. Das Malerische benutzt das Reenactment als Material und reduziert es wieder auf das Wesentliche. Der fotografische Realismus bleibt zwar erhalten, ist aber nicht mehr der zentrale Effekt. (Insofern ist der Begriff „Fotorealismus“ in diesem Zusammenhang auch irreführend: Es geht ja nicht um eine Malerei, die fotografischen Realismus vortäuscht oder imitiert, sondern es geht umgekehrt um das Malerische, das auf Fotografie reagiert, das dem Reenactment ein zweites Leben verleiht.)

Schließlich gibt es eine Abfolge von farblichen Spezialeffekten, die bestimmte Bedeutungen erzeugen (etwa der rote Schirm Hans Beckerts, der wiederkehrt direkt als Indiz für den verfolgenden Polizisten, die rote Tinte, mit der er seine Briefe schreibt, und in der die „Peer Gynt“- Melodie notiert ist, oder das Grün der Äpfel, das in Luftballons und in der Farbe der Stadtpläne wiederkehrt), die aber auch eine kompositorische Wirkung entfalten: Muth setzt die Farben ein wie ein Komponist, der ein sehr spezielles Instrument sparsam und daher umso eindrucksvoller einsetzt. Das zentrale Motiv von Fritz Lang, die Frage, ob der Mörder unter Zwang oder in freiem Willen handelt, spiegelt sich in der Verhandlungs-Szene bei Muth noch einmal in sublimer Weise: Während Beckers verzweifelter Verteidigung schwindet das rote Luftballon-Gespenst, während wir den grünen Schimmer in seinen Augen sehen. (Wahrscheinlich könnte man sogar behaupten, Muth setze die Farb-Akzente etwa so ein, wie Fritz Lang die Sound-Effekte einsetzt.)


M – Eine Stadt sucht einen Mörder (Graphic Novel von Jon J. Muth, nach dem Fritz Lang Film; Cross-Cult Verlag)


Eine der grandiosen Wirkungen von Muths „M“ ist also die Auflösung der Grenzen zwischen den Medien. Ist es Film? Ist es Fotografie? Ist es Zeichnung? Ist es Malerei? Ist es Montage? Ist es Komposition? Ist es Comic? Ist es Roman? Es ist ein Dialog zwischen allen diesen Kunst-Formen. Und daher auch etwas ganz Neues.

Vom Film zur Graphic Novel

Was ist der Sinn eines grafischen „Remakes“ von Fritz Langs Film, der zum Kanon der Cineasten ebenso gehört wie er zum Schlüssel für allerlei Seminararbeiten im Spannungsfeld von Film, Psychologie und Soziologie wurde? An ein regelrechtes Remake im Film hat, glücklicherweise, noch niemand gedacht. Einerseits, weil man diesen Film einfach nicht besser machen kann. Andererseits, weil man ihn später anders hätte erzählen müssen. Denn „M – eine Stadt sucht einen Mörder“ ist unter vielem anderen ja auch ein sehr genaues Zeitbild, übrigens auch voller satirischer Elemente, voll böser Karikaturen von Bürgern, die sich gegenseitig mit Missgunst und Argwohn belauern, und die nur zu warten scheinen auf eine Gelegenheit für Pogrom und Lynchjustiz (Fritz Langs erster amerikanischer Film, „Fury“, hat genau das zum Thema). Aber ein Comic-Remake hat größere Freiheiten im Umgang mit seinem Vorbild, auch die Freiheit, ihm sehr nahe zu kommen.

Zum einen geht es natürlich um eine Übertragung zwischen zwei Medien. Wenn sich auch die Panels von Comics und die Einstellungen bei einer szenischen Auflösung im Kino-Film durchaus ähneln, so gibt es doch auch wichtige Unterschiede. Da ist zum einen die Unerbittlichkeit der Zeit. Im Film geht es eine Zeitlinie entlang, die zu unterbrechen man zumindest zu Fritz Langs Zeiten nicht vorhatte. Eine Einstellung dauert so lange, wie es der Regisseur bestimmt hat. Im Comic bestimmen wir die Verweildauer bei einer „Einstellung“ selber; natürlich treibt uns die Handlungsneugier weiter, aber zur gleichen Zeit verführt uns das Einzelbild zum Bleiben: Gute Comics liest man langsam (gute Filme muss man mehrfach sehen, bis man gewissermaßen seine Bilder auswendig kennt). Es gibt immer die Konkurrenz zwischen der Handlungsspannung, die uns im Comic vorantreibt, und der Faszination des Einzelbildes, die uns zum Verweilen auffordert. Muths „M“-Variante kostet diesen schönen Widerspruch vollständig aus. Es gibt Bilder, die man sich ohne weiteres als fotorealistische Bilder in einer Ausstellung vorstellen kann, und es gibt Serien-Elemente, die die Aufmerksamkeit von einem zum anderen Bild vorantreiben. Was dabei entsteht, ist ein eigentümlicher Schwebezustand der Zeit; man könnte nicht sagen, ob es hier „schnell“ oder „langsam“ zugeht. Es ist eine Traumzeit, die sich von der linearen Kühle bei Fritz Lang und seinen hochmodernen Gegenschnitten (etwa wenn parallel zueinander die Polizisten und die Gangster ihre Maßnahmen gegen den Mörder beratschlagen) unterscheidet. Vielleicht geht es Muth nicht darum, die Geschichte von „M“ noch einmal zu erzählen. Er träumt sie noch einmal.

Weder ein Film-Bild noch ein Comic-Bild ist einem „Gemälde“ vergleichbar; in beiden Medien ist das Bild vielmehr eine Frage des Zusammenhangs. Aber immer wieder durchquert die Gestaltung das „Gemäldehafte“, und im Comic ist dieses Gemäldehafte auch ein Äquivalent zur „langen Einstellung“ des Films. Der Comic intensiviert zum einen und bewahrt zum anderen ein filmisches Erleben. (So kann man paradoxerweise sehr gut vermittels eines Comics zeigen, wie ein Film funktioniert, oder vermittels eines Films, wie ein Comic funktioniert – und gerade deshalb ist auch die Geschichte von Film und Comic so voller wechselseitiger Missverständnisse.) Das Malerische und das Fotografische sind im Fortgang von „M“ nicht etwa stets im gleichen Verhältnis, im Gegenteil, wie mal das eine, mal das andere in den Vordergrund tritt, sich überlagert, widerspricht, ergänzt, das ist wesentlicher Teil der Komposition.

Auch Lang gelingt es, durch überlappende Dialoge in den Montagen, durch Stimmen aus dem (relativen) Off einen Fluss zu erzeugen, den Muth durch serielle Panels, überlappende Sprechblasen und Verschachtelungen erzeugt. Beide Medien also demonstrieren mit ihren Mitteln, wie sich das simple „Und dann“ einer Erzählung überschreitet.

Um die Graphic Novel „M“ zu verstehen, muss man den Film „M“ nicht kennen. Aber die schönen Vertracktheiten, die sich durch die verschiedenen Prozesse der Bearbeitung ergeben, werden erst durch den Vergleich sichtbar. Keine äußere, wohl aber eine innere Modernisierung hat Muth vorgenommen. Wir wissen: Die Distanz und Kühle, die Fritz Lang angeboten hat, um eine der größten inneren Katastrophen einer Gesellschaft darzustellen, den Kindermord und die kollektive Reaktion darauf, ist nicht mehr möglich. Nicht mehr Zirkus und Architektur, sondern Subjekt und Wahrnehmung füllen die Bilder.

Die Graphic Novel

Bizarrerweise – und das wird uns im Vergleich noch häufiger begegnen – fängt die Graphic Novel „filmischer“ an als Fritz Langs Arbeit, die immer wieder gegen die eine oder andere cineastische  Konvention verstößt, nämlich mit einem „establishing shot“ einer grauen Großstadt im Smog, in der irgendwo das schreckliche Kinderlied vom Mörder mit dem Hackebeil ertönt. Lang dagegen beginnt mit Schwarzfilm, und das erste, was wir sehen, sind die spielenden und singenden Kinder im Hinterhof. John Muth zeigt übrigens etwas, was bei Langs Film nicht vorkommt, eine Kirche, die in ihrem dräuenden Schwarz mindestens gleich auffallend ist wie die Fabrikschlote. Noch eine verwischte, überdunstete Sonne fügt der Zeichner ein, bevor er Langs Bild vom Kreis der spielenden Kinder zitiert.

Der Kreis ist für Lang das entscheidende Symbol, seine Störung die Katastrophe: „Du bist raus“, das enthält schon, wie der schreckliche Abzählreim, das kommende Verhängnis. Der Mörder sucht das Kind heim, das allein ist.

Noch einmal gibt Muth einen anderen Blick: Bevor er (wie Lang) die Kuckucksuhr zeigt, lässt er uns den Blick auf einen Kirchturm und schwarze Vögel, die um den Uhrenturm fliegen, frei. Dann, ein neuerlicher Bruch, erscheint zum ersten Mal der Farb-Effekt im Ball des spielenden (des ausgeschlossenen) Mädchens. Bei der Parallelmontage zwischen dem Mädchen und der Mutter, die den Tisch deckt, verzichtet Muth auf die beiden Elemente, die für Lang von Bedeutung sind: Dass sie aus der Schule kommt, und dass dabei ein „Schutzmann“ sie sicher über die gefährliche Straße geleitet. Und nicht über das Fahndungsplakat fällt der Schatten des Mörders, die Anspielung mit dem Kolportage-Lieferanten (was man tatsächlich erklären müsste: Damals wurden die Leute mit dem Nachschub an mehr oder weniger blutigen Pulp Fiction-Träumen durch Kolporteure versorgt, die die wöchentlichen Fortsetzungsromane an die Haustüren brachten). Bei Lang sind das leere Treppenhaus, die leere Dachkammer, der leere Mittagstisch die schrecklichen Bilder der Verschwundenen; bei Muth, nicht minder beeindruckend, der Ruf der Mutter über der Arbeitersiedlung, der Luftballon mit der Clownsgestalt, der in den Drähten der Stromleitung hängt (wieder zeigt der Zeichner dort Baum und Gestrüpp, wo es für Lang keine Natur gibt). Bei Muth schreibt Beckert den Brief an die Presse in roter Farbe; er gibt ihm damit (das ist gewiss ein Reflex unserer Erfahrung in der Mediengesellschaft) größere Bedeutung.

Während Lang danach wieder in die Kreise schneidet (hier ein Stammtisch, an dem die schrecklichen Neuigkeiten beredet werden, und der Lang Gelegenheit für eine fast schon Grosz’sche Satire gibt, groteske Spießer, die nur darauf warten, einander zu denunzieren), wendet sich der Blick bei Muth wieder in den wolkenverhangenen, stürmischen Himmel. Und was bei Lang der Mann am Wirtschaftstisch aus der Zeitung liest, neueste Nachrichten vom Mörder, neue Schrecken, das kommt bei Muth aus dem Radiolautsprecher. Kurzum: Die klaren Gliederungen von Kreis, Linie und Unterbrechung bei Lang werden hier durch eine atmosphärische, impressionistisch vertikale Struktur ergänzt (Himmel, Kirche und „Äther“ spielen diese Rollen). Das Böse liegt buchstäblich in der Luft.

So ähnlich manche Elemente auch in Film und Graphic Novel sind, so unterschiedlich die Wirkung: Lang kehrt immer wieder zur Perspektive einer sozialen Versuchsanordnung zurück; im Ornament wie in der Karikatur schafft er auch immer wieder eine sichere Distanz. Keiner von uns ist eine solche Spießer-Parodie, keiner von uns kommuniziert in solchen Zirkeln, die erscheinen, als wäre das ganze soziale Leben nichts anderes als die Fortsetzung des Auszählreimes im Kinderkreis. Muth dagegen erzeugt eine Innen-Perspektive, und wieder drehen sich da die Verhältnisse um: Langs Spießer- und Gauner-Karikaturen mögen „comic-hafter“ sein als Muths Menschen-Impressionen. Jeder von uns könnte (beinahe) jede Rolle von Täter, Opfer, Zeuge und Jäger einnehmen. Im Kino des Fritz Lang gibt es mehr Linien, in der Graphic Novel des Jon J. Muth mehr Flächen. Dass der Mörder „einer von uns“ ist, das ist bei Muth noch um etliches intensiver spürbar als bei Lang.

Ausgelassen ist erstaunlicherweise auch die visuelle Pointe in der Szene, in der der Mörder vor einem Buchladen auf ein neues Opfer wartet, wo im Schaufenster eine Hypnosescheibe und ein auf und ab wippender Pfeil genügend ikonographisches Material lieferten. Stattdessen handelt es sich in der Graphic Novel um einen Spielzeugladen, Fülle statt Indiz. Einmal mehr verzichtet  Muth auf visuelle Überdeutlichkeit. Stattdessen fügt er eine Vision von einem toten Mädchen ein. Aus der speziellen semiotischen Beziehung zwischen dem Täter und den Zeichen wird ein Flash des gemeinsamen Albtraums.

Eine spezielle Bild-Inszenierung bietet das Schlussplädoyer des Angeklagten Beckert, der wie sein Vorbild immer wieder versucht, „in die Kamera“ zu sehen, aber das auch immer wieder verliert. Die Szene ist in der Graphic Novel im Vergleich zur filmischen Vorlage gerade umgekehrt aufgelöst: Bei Lang löst sich die ordentliche Verhandlung in individuellen Beziehungen auf, bei Muth stehen zuerst die Personen im Vordergrund, erst am Ende wird das anklagende Kollektiv sichtbar, das „Volk“, so einprägsam wie man es aus manchen Filmen von Eisenstein und John Ford kennt. Doch den vom Leiden gezeichneten Gesichtern, die unsere Zuneigung verlangen, widersprechen die mörderischen Forderungen: Das Biest soll sterben. Bei Lang ist der Prozess vor allem eine Inszenierung der Macht. Bei Muth dagegen schleicht sich ein Grauen in die Normalität (nicht umsonst schlüpft der Schänker ja einmal sehr glaubwürdig in die Polizeiuniform).

Relektüre

Man könnte wohl sagen, Muth übersetzt den Lang-Stoff ein wenig in einen Hitchcock-Kontext. An die Stelle der Überdeutlichkeit der sozialen Masken tritt Schattenhaftes; wie bei Hitchcock ist man bei Muth zugleich in einer realen und in einer surrealen Welt. Und Täter und Opfer, vom Verbrechen bis zu seiner Verfolgung, sind äußerlich kaum zu unterscheiden. Die Bedrohung hat bei Lang von Anfang an ein sehr reales Gesicht (es sind, um es historisch auszudrücken, die Menschen, die nach dem verlorenen Krieg und dem Zusammenbruch der großen Ordnungen in der Stadt ums Überleben und den Erhalt der „kleinen Ordnungen“ kämpfen), bei Muth dagegen kommt sie aus den Tiefen des Unbewussten, aus der Stadt der Verschmelzungen, vielleicht auch aus Erinnerungen und Projektionen.


M – Eine Stadt sucht einen Mörder (Graphic Novel von Jon J. Muth, nach dem Fritz Lang Film; Cross-Cult Verlag)


Für Fritz Lang ist die Stadt eine Idee, eine Ordnung, für Muth dagegen eine Empfindung, eine Lebensform, die noch bis ins letzte Staubkorn bestimmend ist. Je genauer man sie ansieht, desto mehr verschwimmt sie (vielleicht ist das ja überhaupt ein Wesensmerkmal der Graphic Novel: Die Bilder summieren sich nicht mehr zu einer Meta-Information, wie zum „Kanon“ einer Serie, sondern im Gegenteil, sie bewegen sich durch eine Welt der Geheimnisse und zerstören mehr Gewissheit als sie erzeugen). Das Satirische, das bei Lang immer wieder aufscheint (etwa die Bettler, die „Stullen“ mit diversen Belägen notieren wie Aktien an der Börse), fehlt bei Muth, dagegen gibt es einen Hauch von Mystery (die wiederkehrenden Vögel über der Stadt, die nicht nur einen vorzüglichen Raum-Effekt erzeugen, sondern auch Todesboten-Assoziationen zwischen van Gogh, Hitchcock und Stephen King).

Spätestens in der Szene, in der der Polizeibeamte mit dem Minister telefoniert wegen des Skandals, den der Brief des Mörders machte, wird klar, dass wir in Muths Welt in „keiner Zeit“ sind: Eben noch schienen wir in dem unmittelbaren Zeitabschnitt zwischen den zwei Weltkriegen, wie die Kleidung des zu Unrecht beschuldigten signalisierte, nun scheinen die Telefone eher in die vierziger Jahre zu verweisen; (zeitlos sind ja auch die Polizei-Uniformen der „Bobbies“, ganz anders als die preußischen Tschakkos bei Lang, die eine sehr dezidierte Zeit beschreiben). Ist es eine Traumstadt, oder eine englische Industriestadt, eine film noir- oder eine Edward Hopper-Stadt? Man kommt um das Wort nicht herum: Postmodern. Die Stadt, die ihre eigene Inszenierung ist, nicht gewachsen sondern erträumt. Und so ist das Verbrechen, das bei Fritz Lang so offensichtlich ein Symptom der (schlechten) Modernisierung ist (der Verlust der Familien, die labyrinthische Weite, die Anonymität, die Abstraktion der Ordnungen etc.), bei Muth ein Symptom der Entzeitlichung, des Form-Verlustes.

An die Stelle gesellschaftlicher Zeichen treten hier also vor allem psychologische Symbole (Vögel, Ball, Apfel, Schirm etc.). Der Zeugen-Streit um die Farbe der Kleidung des Mädchens (der die Polizisten so ratlos macht) wird bei Lang zwischen zwei älteren Männern, bei Muth zwischen einem Mann und einer Frau geführt. Bei Lang befinden wir uns deutlich in einer Männerwelt, bei Muth tritt das weibliche Element immer wieder hervor. Statt der akribischen Schilderung der Fahndungstechniken bei Lang treten die Empfindungen, wie bei der Hetzjagd der Hure durch die Straßen (vorbei an „The Crocodile“), das Zille’sche Milieu, das Lang noch schildert, ist nun Kulisse für das Personal eines film noir geworden. Die Unterwelt, die bei Lang nur aus Karikaturen des bürgerlichen Lebens besteht, die „Verkommenheit“ (das „Ungesunde“) nicht verbirgt, hat in der Graphic Novel die moralische und erotische Ambiguität, die wir aus amerikanischen Filmen der vierziger Jahre kennen. Selbst die Off-Erzählungen haben mehr Ähnlichkeit mit den unzuverlässigen Erzählern des film noir als mit der Chronik.

Alle in Fritz Langs Film sind bereit zur Gewalt, bei den Kindern begonnen, über gute Bürger bis zur Politik; selbst in den proletarischen Wohnsiedlungen gibt es kaum freundliche Worte, nicht einmal unter den Frauen, die sich hier in Elend und Alltag einrichten müssen. Die Sorge um die Kinder wäre womöglich eine Form der Einigung, aber genau damit beginnen die Aufbrüche erst recht. Bei Muth dagegen scheinen eher alle vom gleichen Grauen beherrscht; den Titel-Gedanken von Lang – „Eine Stadt sucht einen Mörder“ – findet man hier nicht. Auch der dritte Teil, „Jagd“, zeigt nichts von der kalten Lust der Menschenjagd (eher die Präzision eines Caper Movies).

Der größte Unterschied freilich liegt in der „Besetzung“ der Hauptfiguren. Der Mörder in der Graphic Novel erscheint weicher und „normaler“ als der Peter Lorre des Films (den Fritz Lang im Alter von 26 Jahren „entdeckt“ hatte und der in seiner Rolle als Hans Beckert einen Standard für die Darstellung von Bösewichten im Film setzte); man könnte überhaupt sagen, das Durchschnittsalter der Protagonisten sei in der Graphic Novel gegenüber dem Film drastisch heruntergenommen. Der Schränker andererseits ist das Gegenteil des in jeder Hinsicht „glatten“ Gustav Gründgens, der wirkt wie der Manager eines florierenden Unternehmens oder einer Polizei-Organisation. Die sinistre Gestalt mit dem Vollbart erscheint eher wie ein Verschwörer, Vertreter eines Gentleman-Verbrechens.  (Nur die schwarzen Handschuhe sind beibehalten.) Definitiv aber haben sich die Wesen der Opfer geändert. Bei Lang sind es eindeutig Kinder, eine sexuelle Ausstrahlung ordnet er ihnen nicht zu. Bei Muth dagegen sind sie ein wenig älter, „Lolita“ sieht schon um die Ecke. Ein Nicht-Erwachsener macht Jagd auf Nicht-mehr-Kinder.

Vielleicht sind beides, Fritz Langs Film und die Graphic Novel, Symptome des Übergangs: Fritz Lang hatte seinen Widerstand gegen den Tonfilm nach langer Zeit aufgegeben, sich dann aber ganz auf das neue Medium gestürzt. Das hieß nicht nur den Ton zum Erzählmittel zu machen, sondern auch das expressive Spiel im Stummfilm durch ein Unterspielen, etwas Dokumentarisches im Schauspielstil zu ersetzen. Die Zeitgenossenschaft des Films ist im Nachhinein eher gespenstisch: Als Lang in der Zeppelinhalle von Staacken drehen wollte, wies ihn der Verantwortliche zurück, man wolle nicht, dass ein diskreditierender Film über ihren „Führer“ (der Mann war schon Parteimitglied) gedreht würde. Wie er auf solch eine Idee komme? Nun, hieße der Film nicht „Mörder unter uns“? Unter dem neuen Titel „M“ und der Versicherung, der Film handele nicht von einem politischen Führer, sondern von einem Kindermörder, kam der Vertrag schließlich zustande. So wie er ein Reflex des Zusammenbruchs der Ordnungen im Ersten Weltkrieg ist, ist Fritz Langs Film nicht nur in seiner Produktionsgeschichte, sondern in hunderten von Details, die sich erst viel später erschließen sollten, voller Anspielungen und Widerscheinen des kommenden faschistischen Unheils.

Diese zeitgeschichtliche Dimension lässt sich nicht ohne weiteres wiedergeben. Der Comic nimmt denn auch kaum jene Elemente auf, die man als bewusste oder unbewusste politische Zitate verstehen konnte, etwa wenn sich Gründgens Schänker in einen Vernichtungsrausch über die Bestie redet, die weg, ausradiert, vernichtet werden müsse. Bei Muth wirft es der Schänker als Ankläger in die Runde, der sich mit Hut, Handschuhen und Schirm als „Gentleman“ gibt; bei Lang ist es definitiv eine Inszenierung politischer Rhetorik (und Handschuhe und Stock nehmen in ihrem Fetisch-Charakter die Todesbilder der Nazis vorweg). Umgekehrt zeigt Muth einiges von dem, was Fritz Lang bewusst ausspart, am eindringlichsten wohl im Erscheinen von Beckerts früheren Opfern. Die Graphic Novel ist, mehr als der Film, auch aus dem Kopf eines wahnsinnigen Mörders heraus erzählt, der von seinen eigenen Taten verfolgt wird.

Dafür ist die ikonographische Verwandtschaft der miteinander geschnittenen Szenen bei den Verbrechern und bei den Polizisten noch näher beieinander: Sie ist bei Lang (wen wundert es), durch die Form des Tisches unterschieden: viereckig bei der Polizei, rund bei den Gangstern. Noch einmal also: Die Umsetzung in den Comic ist hier nicht Vereinfachung, sondern Erweiterung und Ergänzung.

Es gibt also drei Übersetzungsarbeiten: Erstens geht es um die Übertragung eines „Zeit-Bildes“ in ein überzeitliches Panorama, das seine Gültigkeit bewahrt. Zweitens wird die klare soziologische, fast dokumentarisch-formale Anordnung in eine subjektivere, metaphysische Erzählweise übertragen, aus einer (gelegentlich) fast kalten Draufsicht bei Lang wird eine Innensicht, die Bildwelt verändert sich hin zu Edward Hopper’scher Tristesse und zu den Stimmungen des film noir. Muth überträgt seiner Vorlage etwas, das ihr entscheidend gefehlt hat: Mitempfinden, Mitleid.

Im Drehbuch hat der Film 485 Einstellungen; die Graphic Novel besteht aus etwa 380 Panels. Im Gegensatz zu Lang dominieren freilich die Halbnah- und Nah-„Einstellungen“, von den wenigen (aber bedeutsamen) atmosphärischen Zwischenbildern der Stadt und der Straße abgesehen, konzentriert sich das Geschehen auf die Gesichter und Blickkontakte, während bei Lang das Arrangement der Gruppe mindestens ebenso entscheidend ist. Auch dies ist ein Teil der „Subjektivierung“ des Geschehens, die allerdings auch bei Lang selber schon im Ansatz stattfindet. Erinnert man sich an seine expressionistischen Filme, so gibt es bei diesen die Gegenüberstellung von individuellen Führern und der Masse; ab „M“ (unterstützt, wenn auch nicht allein geführt durch den Ton) erkennt Lang in jeder sozialen Gruppierung auch das Individuum. Aber „Bild“, das heißt für ihn immer ein Gegenüber. Durch seine verschiedenen Schritte der Bearbeitung „öffnet“ Muth dieses Bild, er macht es uns im wahrsten Sinne „zugänglich“. Immer wieder wird bei der Graphic Novel der Blick des „Lesers“ mit einbezogen, gibt es gewissermaßen Blick-Dialoge zwischen den Handelnden und den Betrachtenden.


M – Eine Stadt sucht einen Mörder (Graphic Novel von Jon J. Muth, nach dem Fritz Lang Film; Cross-Cult Verlag)


Von ganz eigenem Reiz schließlich ist die Farbdramaturgie des Comics zwischen Grafitgrau und Sepia mit den diversen Farb-Sprenkeln, die regelmäßig aufscheinen: Im Rot des Schattens, des Ballons, des Regenschirms, des Blutes und des Textes. Auch hier begegnen sich das Historische und das Zeitlose. Eben das ist die Stärke der Postmoderne.

Schicksal & System

Das Drehbuch zu „M“ entstand in einer Zeit, in der Serienmörder gehäuft aufzutauchen schienen. Neben Haarmann, dem furchtbaren Helden des Kinderliedes, beschäftigten etwa die Fälle Denke und Schumann die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit. Was Fritz Lang interessierte, war vor allem das Muster der Ereignisse, eine Matrix einer gesellschaftlichen Erregung: „Eine fast gesetzmäßig sich wiederholende Erscheinung der Begleitumstände, wie die entsetzliche Angstpsychose der Bevölkerung, die Selbstbezichtigung geistig Minderwertiger, Denunziationen, in denen sich der Hass und die ganze Eifersucht, die sich im jahrelangen Nebeneinander aufgespeichert hat, zu entladen scheinen, Versuche zur Irreführung der Kriminalpolizei teils aus böswilligen Motiven, teils aus Übereifer. Alle diese Dinge, im Film klargelegt, aus den nebensächlichen Ereignissen herausgeschält, schienen mir den Film, den Film als Tatsachenbericht, vor eine Aufgabe zu stellen, die ihn über die Aufgabe der künstlerischen Reproduktion von Geschehnissen hinauswachsen lässt: zu der Aufgabe, an wirklichen Geschehnissen eine Warnung, eine Aufklärung zu geben, und dadurch schließlich vorbeugend zu wirken wie die Art, mit der ein unbekannter Mörder durch ein paar Süßigkeiten, einen Apfel, ein Spielzeug, jedem Kind auf der Straße, jedem Kind, das sich außerhalb des Schutzes von Familie oder Behörde befindet, zum Verhängnis werden kann“ (Lang).

Selbst die Idee, dass sich die Berliner Unterwelt zusammenschließen würde, um den Mörder zu jagen, damit die polizeilichen Pressuren nachließen, stammt aus einem Zeitungsbericht. Langs Film ist also nicht nur extrem zeitbezogen, sondern in gewisser Weise sogar „journalistisch“. Für das zeitgenössische Publikum war der Film eine Auseinandersetzung einerseits mit einer sehr konkreten Bedrohung, andererseits aber auch mit der Frage nach der adäquaten Reaktion. Ein Problem, das noch nicht gelöst ist.

Das metaphorische Thema des Films wie der Graphic Novel ist die Frage nach dem freien Willen. Sie bricht auf durch die Störung sozialer Systeme. Noch gewichtiger als im Film ist bei Muth die moralische Ambivalenz der Geschichte, der schlichte Umstand, dass alles „stimmt“ aber nichts „aufgeht“. Während Langs Referenz gewiss die griechische Tragödie mit ihrem ebenso unerbittlichen wie ungerechten Schicksal ist, mag Muth sich in der Tradition des angelsächsischen Romans befinden, der immer tiefer ins „Herz der Finsternis“ gelangt. Die griechische Tragödie unterwirft nicht nur die Menschen, sondern sogar die Götter einem Fatum, das weder Gerechtigkeit noch Mitleid kennt. Die einzige Möglichkeit, ihm zu begegnen, ist Größe und Gleichmut. Die „blood poetry“ dagegen handelt von einer unendlichen Annäherung an eine Kraft des Bösen.

Das Entscheidende ist: Dies ist kein Comic-Remake des Films, es ist eine Re-Lektüre. Es überträgt nicht nur die Techniken eines Mediums in die eines anderen, sondern es nutzt die Differenz zu einer Interpretation. So nahe also der Comic am Film ist, so eindeutig die Zuordnung der Dialoge und der Szenenabfolge, am Ende erzählt er nicht einmal dieselbe Geschichte. Lang erzählt von einem losgelassenen „Es“, das die gesellschaftlichen Kräfte, die von oben wie von unten mobilisiert, weil dieser Triebmörder verrät, was unter der bürgerlichen Maske steckt (so hat es einst Enno Patalas gedeutet). Und diese Störung offenbart umgekehrt die klammheimliche Ordnung der Gesellschaft, die oben wie unten, innerhalb und außerhalb des Gesetzes herrscht. Eine Mechanik ist in Gang gesetzt, gegen die es nicht wirklich ein Mittel gibt. Am Ende sind alle „schuldig“, aber niemand ist verantwortlich (schon weil wir niemandem begegnen, der in der Lage wäre, Verantwortung zu übernehmen). In der Graphic Novel dagegen ist niemand in einem kategorischen Sinne schuldig, aber alle tragen Verantwortung (und wir sehen ihnen zu, wie sie sich ihr zu entziehen versuchen), einschließlich der Leser selbst.
Fritz Langs Film, habe ich behauptet, beschreibt den äußeren Untergang der bürgerlichen Welt. Auch nachdem das Monster bezwungen und womöglich, „eliminiert“ ist, wird man zu keiner Harmonie und zu keinem Frieden mehr zurück finden. Jon J. Muths Graphic Novel bietet dazu eine Innen-Ansicht. Der Untergang, den er beschreibt, ist nicht der historische der Zeit nach dem 1. Weltkrieg. Es ist der Untergang, der immer wieder geschieht. Verflucht aktuell, mit anderen Worten.


Autor: Georg Seeßlen

Vorwort zu: M – Eine Stadt sucht einen Mörder von Jon J. Muth (erschienen im CROSS-CULT Verlag)


M – Eine Stadt sucht einen Mörder
von Jon J. Muth, nach einem Film von Fritz Lang
16×24, Hardcover, vierfarbig, 192 Seiten, Euro 25,00
ISBN: 978-3-941248-20-5


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