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Deutschlands Dachschäden: Ein wundervoller Film aus dem Mörderland

Die Regisseurin Frauke Finsterwalder hat einen Film über Menschen gedreht, die gerne Pelztiere wären oder andere wunderliche Vorlieben haben. Und der ganz bezaubernd ein paar finstere Märchen von heute erzählt.

Deutschland, das ist so ein diffuses Grauen unter einer Oberfläche aus Effizienz, Erfolg und Eigenbrötlertum. Deutschland ist Märchenland und Mörderland. Jedenfalls bei Frauke Finsterwalder, 39, die ihrerseits nicht in Deutschland lebt, sondern in Kenia und Florenz. Mit ihrem Mann, dem aus der Schweiz stammenden Schriftsteller Christian Kracht. Einst war er eine zarte Heiligengestalt der deutschen Popliteratur, jetzt ist er zu einem wunderbaren, verrückt fantasievollen und stilistisch hochbegabten Autor gereift. Er hat es zuletzt mit seinem radikalen Aussteiger-Roman «Imperium» bewiesen.

Er tut es jetzt wieder mit dem Drehbuch zu «Finsterworld», dem Spielfilmdebüt seiner Frau, auf die exakt die gleichen Adjektive zutreffen wie auf ihn. Das muss eine glückliche Ehe sein. Auch wenn in «Finsterworld» sämtliche Beziehungen hochgradig kompliziert und gestört sind.

Der verschrobene Fußpfleger Claude (Michael Maertens) etwa ist in seine betagte Klientin verliebt und verfällt dabei einer Art von Fetischismus, der wohl irgendwo in den unappetitlichen Tiefen des Darknet zu Hause sein muss. Ein ganz normaler Polizist (Ronald Zehrfeld) ist in seiner Freizeit ein «Furry», ein Mann im Eisbärenkostüm, der sich mit andern freiwilligen Fellträgern zu Kuschelpartys trifft. Erst in der Verkleidung ist Zutrauen und Zärtlichkeit möglich. Frauke Finsterwalder filmte dafür mit echten deutschen «Furries», Menschen in Kostümen, die sich wie scheue bedrohte Tiere verhalten.

Die Dokumentarfilmerin Franziska (Sandra Hüller) wiederum versucht aus einem Hartz-IV-Prolo Filmkunst zu machen. Das Werber-Ehepaar Inga und Georg Sandberg (Corinna Harfouch und Bernhard Schütz) will nicht in einem deutschen «Nazi-Auto» nach Paris fahren, denn bei aller eiskalten menschlichen Ignoranz, die sie ihrem Sohn und Georgs Mutter entgegenbringen, können sie doch nicht das Schwergewicht deutscher Historie ignorieren.

Ein Tier wird getötet. Und ein Mensch. Und die Schülerin Natalie (die Schweizerin Carla Juri, eben noch in «Feuchtgebiete») wird bei der Besichtigung der KZ-Gedenkstätte Dachau in einen Ofen gesteckt. Als wär sie die Hexe aus «Hänsel und Gretel». Claude und seine alte Dame (Margit Carstensen) treiben einander derweil mit Nonsense-Versen aus deutschen Volksliedern schier in den Wahnsinn. Und so mancher endet unschuldig im Gefängnis.

Der deutsche Wald steht dabei schwarz und schweiget, und aus den Wiesen steiget – nein, kein Nebel, aber ein Licht, so wunderbar, als würde ununterbrochen der Goldstaub der Verzauberung in die Luft gepustet. Immer scheint die Sonne. Immer sind die Strassen bis auf ein einziges Fahrzeug leer. Statisten gibt es keine, nur Hauptdarsteller und eben die verkleideten Furries. Alles andere würde Finsterwalders Stil und Christian Krachts Dialoge stören. Klar sind die beiden Snobs. Aber sie wissen so genau, was sie tun, dass man sie darin auch gar nicht stören sollte.

Ihr Deutschland ist ein Kaleidoskop aus sturen Existenzen mit argen, aber liebevoll ausgearbeiteten Dachschäden, die allesamt auf nationale Traumata zurückgehen. Und dennoch wirken die Figuren, als hätte Frauke Finsterwalders grosser Inspirator, Wes Anderson, sie mit besonders liebevoller, leichter Hand hingepinselt. Ihre Welt ist ein zauberischer Zwitter aus Realität und Utopie. Dahinter lauert eine Leere, die sich an Stelle des deutschen Schuldbewusstseins früherer Jahrzehnte geschlichen hat.

Es gibt im postpostfaschistischen Zeitalter eben bloss noch das Zitat der Schuld, und ein Zitat darf auch in erfrischend respektlosen Zusammenhängen angewendet werden, wie uns die coole Schule der Popliteratur in den 90ern gelehrt hat. Ein Spruch wie «Na, ihr Spasmos! Ready for the KZ-Besuch?», ist in «Finsterworld» normal. Und auch der Titel des Films ist selbstverständlich Zitat, eine Verschränkung aus Finsterwalder selbst und ihrem Lieblings-Comic «Ghost World» über zwei High-School-Aussenseiterinnen (der Comic kommt im Film auch ganz direkt als Natalies Lektüre vor).

Und so ist «Finsterworld» am Ende ganz einfach die zeitgemässe Ausgabe dessen, was die Gebrüder Grimm mit ihren Märchenbüchern im 19. Jahrhundert vorlegten: eine groteske, unterhaltsame, aufregende und betörend schöne Sammlung nicht allzu realistischer deutscher Geschichten.

Simone Meier, watson.ch 18.03.2014

Bilder: Alamode Filmverleih