Was ist normal, was verrückt? – Die Frage wird seit Anbeginn der Künste immer wieder gestellt. Auch im Kino. Jetzt vom italienischen Regisseur Paolo Virzi („Die süße Gier“) mit dieser Tragikomödie.
Legendär: „Eine flog über das Kuckucksnest“, die Romanadaption von Regisseur Miloš Forman aus dem Jahr 1975. Es gibt nur wenige Spielfilme, in denen es derart glücklich gelungen ist, eine ernsthafte Spiegelung des Alltags in einer psychiatrischen Klinik mit massentauglicher Wirksamkeit zu bieten und dabei auch noch gesellschaftskritisch zu sein. Virzi kommt dem erstaunlich nah.
Erzählt wird von zwei unterschiedlichen Frauen: die eine plappert, die andere grübelt. Beide eint, dass sie den Stempel „verrückt“ auf der Stirn tragen. Und siehe da: gerade das macht sie zu überaus liebenswerten Personen. Virzi, Autor und Regisseur, kam auf die Idee zum Film, als er einmal seine Frau, die Schauspielerin Micaela Ramazzotti ganz privat im Gespräch mit ihrer Kollegin Valeria Bruni Tedeschi beobachtet hat. Er spürte, erzählt er gern, dass von Beiden eine ganz besondere Energie ausgegangen sei, die er kaum in Worte fassen könne. Drum hat er sich eine Geschichte für sie ausgedacht. Die handelt von Beatrice (Valeria Bruni Tedeschi) und Donatella (Micaela Ramazotti), leichtfüßig die eine, von Schwermut geprägt die andere. Die Beiden lernen sich in der Psychiatrie kennen, werden Freundinnen, entscheiden sich zur gemeinsamen Flucht. Wobei einem gleich noch ein anderer Kino-Hit einfällt: „Thelma und Louise“. Das liegt vor allem daran, dass auch Beatrice und Donatella ein Auto entern, sich mehr und mehr in eine ganz eigene Welt begeben.
Der feministische Ansatz des 1991 uraufgeführten Roadmovies von Regisseur Ridley Scott spielt bei Virzi allenfalls eine untergeordnete Rolle. Interessanterweise sind auch weniger die Anspielungen auf diese zwei Filme von Bedeutung als die auf einen in Deutschland weniger bekannten italienischen: „Theresa, die Diebin“, 1974 mit dem Golden Globe ausgezeichnet, das Drama einer Frau, die einen langen Leidensweg durch Gefängnisse und psychiatrische Anstalten durchlaufen muss. Der von Monica Vitti getragene Film hat damals in Italien wesentlich zur Diskussion um den Umgang der Gesellschaft mit Nervenkranken beigetragen. Virzi setzt das fort und konstatiert, dass sich nicht wirklich viel verändert hat. Dabei bleibt der Ton komödiantisch. Wie schwer auch ist, was Virzi beleuchtet, ob nun die desolate Situation in den öffentlichen Nervenheilanstalten in Italien oder die Macht der Mafia: der Erzählton bleibt leicht, geradezu überdreht. Dennoch entlarvt die Story, die gelegentlich ein wenig konstruiert anmutet, zielsicher immer wieder die inhumanen Mauern, die vermeintlich Kranken in der sogenannten freien westlichen Welt von den sich für gesund Haltenden gebaut werden. Dabei verniedlicht der Film nicht die Tatsache, dass es Störungen gibt, die dazu führen, dass Menschen vor sich selbst und andere vor ihnen geschützt werden müssen. Doch er zeigt, wie rasch Schutz auch zu Zwang und Unterdrückung führen kann. Dabei suchen Beatrice und Donatella auf ihrer Flucht nichts anderes als das, was wohl alle Menschen tagtäglich suchen: ihr persönliches Glück. Ihr Zueinanderfinden in der Obhut so braver wie hilfloser Schwestern und Ärzte und ihr späteres Zusammensein fern aller Aufsicht zeigt sie als zugleich verletzliche und doch auch starke Individualistinnen. Und denen wurde und wird es – wann auch immer, wo auch immer – gern schwer gemacht. Kein Wunder also, dass man sich im Kino sofort zu den zwei „Durchgeknallten“ hingezogen fühlt.
Entscheidend für die Sogwirkung sind die pointiert gezeichneten Milieuschilderungen und die mit gepfeffertem Witz aufgeladenen Dialogen von Virzi und seiner Ko-Autorin Francesca Archibugi. Doch es sind insbesondere die Hauptdarstellerinnen, die fesseln: Valeria Bruni Tedeschi und Micaela Ramazotti. Sie bewältigen die schwierige Aufgabe, Charaktere fern aller Normierungen nicht nur glaubhaft, sondern liebenswert darzustellen. Dabei vermeiden sie alle denkbaren Klischees. Auch vordergründiges Moralisieren bleibt aus. Man drückt den von ihnen verkörperten Protagonistinnen nur zu gern die Daumen, und fragt sich dann, wie man’s denn selbst hält mit dem Mut, zur eigenen „Verrücktheit“ zu stehen. Sehr heilsam. Und sehr unterhaltend.
Peter Claus
Bilder: © Neue Visionen
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