Er ist schwer auszuhalten, dieser Film. Dabei sagt man sich die ganze Zeit: toll gemacht, wunderbar gespielt, spannendes Thema. Doch man möchte wegsehen und weghören – weil man sich in einem Punkt plötzlich selbst befragen muss, und das ist ja selten angenehm. Ganz harmlos fängt es an. Man meint zunächst, ein Rührstück serviert zu bekommen: Helene (Martina Gedeck) leidet in der Ehe an der Seite ihres gefühlsarmen Gatten (Johannes Krisch). Er misshandelt sie, eher ungewollt, er ist nun mal ein Biedermann von tödlicher Schlichtheit, psychisch, schließlich gar physisch. Dann lernt sie den Neuropsychologen Eduard (Ulrich Tukor) kennen. Er glaubt an die Kybernetik als wesentliche Stütze des Glücks. – Das könnte nun rasch zu einer Emanzipationsgeschichte einer Frau werden, die sich über die Beziehung zu einem anderen Mann neu (er)findet. Doch nichts von derlei Klischees wird offeriert. Denn Eduard ist gar nicht fähig zu einem wirklichen Miteinander, nicht einmal rein sexuell. Seine körperliche Befriedigung holt er sich nämlich unentwegt über den Konsum von Pornografie. Er ist der virtuellen Lust verfallen, ist suchtkrank, und deshalb nicht besser dran als Helene. Doch sie, fasziniert von dem Mann, will ihm helfen, lässt sich auf einen gefährlichen Drahtseilakt ein, zügellos, fast ohne Grenzen, dem Irrsinn nah. Wer den Roman der schottischen Autorin Alison Louise Kennedy kennt, weiß das alles von Anbeginn an. Wer nicht, wird gehörig überrascht.
Vor zehn Jahren wurde Regisseur Sven Taddicken mit der Romanverfilmung „Emmas Glück“ bekannt. Wieder ein wesentliches Stichwort für seine Arbeit: feinfühlig. Und: Er hat den Mut zu schonungslosem Erzählen. Wobei er erfreulicherweise kaum auf Äußerlichkeiten setzt. Das Grauen kommt meist allein auf der Tonspur zur Wirkung. Wichtiger sind die Momente, in denen die zwei Protagonisten in einen bis zum geht-nicht-mehr offenen Gedankenaustausch treten, um die dunklen Seiten ihrer Seelen zu erkunden, dabei viele Widersprüche aber auch einige Gemeinsamkeiten entdecken. Eduard, der aufgeklärte Mann, der andere so gern aufklären möchte, zieht in seinen sexuellen Fantasien Erregung vor allem daraus, dass er Frauen auf widerwärtige Weise erniedrigt. Helene erkennt, dass sie vor allem und in jeder Hinsicht auf Unterwerfung konditioniert ist. Gegensätzliches und Gemeinsames liegen also gefährlich dicht beieinander. Gleißendes Glück kann einen verblenden.
Am wirkungsvollsten und nachhaltigsten ist der im Erzählfluss ungemein elegant anmutende Film in den Augenblicken abgrundtiefen Schweigens. Dabei entstehen, durch die Inszenierung und die Bildgestaltung bewusst provoziert, im Kopf des Betrachters schier furchtbare Bilder. Man erkennt mit Schrecken, welche Schatten in einem selbst lauern. Was erstaunt, ist, dass die Filmversion einen wesentlichen Aspekt der Romanvorlage nicht eliminiert, aber doch an den Rand drängt: die Auseinandersetzung mit dem Glaube sowohl als möglicher Hilfe als auch denkbarem Hindernis auf der Suche nach dem eigenen Lebensglück. Wer das Buch nicht kennt, dem wird das nicht auffallen. Dem Kinozuschauer jedoch, der es gelesen hat, könnte die damit verbundene Erweiterung des Nachdenkens über die menschliche Existenz fehlen. Anfangs ist der Aspekt im Film noch erhalten, zum Beispiel wenn Helene einmal sagt, Gott sei ihr irgendwann, irgendwie verloren gegangen. Doch im Verlauf des Geschehens wird darüber recht wenig nachgedacht.
Getragen wird das Drama vor allem von Martina Gedeck und Ulrich Tukur. Der Regisseur hat sie exzellent geführt. Sie beweisen ihre Klasse, ohne ihr Können vordergründig auszustellen. Beide agieren überaus feinsinnig, nuanciert. Dadurch erreicht die Auseinandersetzung des von ihnen verkörperten Paares mit Abhängigkeit, Anpassung und Aufbegehren eine enorme Intensität. Martina Gedeck zeigt das zunächst ganz vorsichtige, langsame Erwachen der Helene mit kleinsten Mitteln. Man meint dadurch tatsächlich, in die Figur hinein sehen zu können, das Streiten ihrer verschiedenen Empfindungen, Sehnsüchte, Hoffnung, Ängste zu spüren. Wenn sie schließlich auftrumpft, dabei immer noch zart anmutend, aber auch geschmeidig, nicht mehr so unbeholfen und kantig, hält man den Atem an. Spätestens dann, wenn Helene eine unerhörte Entscheidung trifft (die hier nicht verraten wird), kommt man als Filmbesucher nicht umhin, sich mit sich selbst zu befassen. Denn es drängt sich einem die Frage auf, wie viele Male man selbst schon andere Menschen klein gemacht hat, ob nun bewusst oder nicht.
Das Wort „Achtsamkeit“ kommt einem in den Sinn. So wird der Film zu einem äußerst nachhaltigen Kommentar auf eine, auf unsere, Gesellschaft, die mehr und mehr an einem Mangel an Empathie krankt. Da fährt einem dieser Film denn wirklich in die Magengrube. Man kann als Zuschauer nicht in der Position des Beobachters zu verharren und muss sich einer sicher oft beunruhigenden Selbstbefragung stellen.
Peter Claus
Bilder: © Wild Bunch Germany
Gleißendes Glück, von Sven Taddicken (Deutschland 2016)
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