Das Wort „apart“ ist in unserer Alltagssprache kaum noch in Gebrauch. Doch wer es kennt, und wer es schätzt, wird es sofort auf die Schauspielerin Odine Johne anwenden. Ihre Erscheinung wird geprägt von einer ganz selbstverständlich anmutenden Erotik, die nichts von Schminke und Tünche an sich hat. Verstärkt wird dieser Eindruck dadurch, dass die junge Frau, die bereits als Schülerin eine erste Filmrollen übernommen hatte und 2008 als Teenager in „Die Welle“ auffiel, eine von Innen heraus strahlende Schönheit besitzt, Schönheit, die spürbar von Intelligenz getragen wird. Damit ist sie als Hauptdarstellerin dieser Romanverfilmung schlichtweg die Idealbesetzung.
Der erfreulicherweise überwiegend auf leise Töne setzende Film kreist um die Frage, ob es zwei Menschen je möglich sein wird, einander wirklich zu erkennen, zu begreifen, zu verstehen. Launig geht’s los: Der nicht mehr ganz junge Walter (Stephan Kampwirth) sieht die deutlich jüngere Agnes (Odine Johne) in der Bibliothek. Er ist sofort fasziniert. Später spricht er sie in der Straßenbahn an. Aus einem Flirt wird rasch mehr. Der 41-jährige Sachbuchautor und die 28-jährige Studentin versuchen, sich ein gemeinsames Leben aufzubauen. Anders aber als er, will sie die Liebe mit Haut und Haaren erfahren, bedingungslos. Seine eher lasche Art bringt sie in Bedrängnis. Agnes leidet daran, dass sie Walters Gefühle zu ihr als nicht kraftvoll genug empfindet. Sie steigert sich in eine regelrechte Verzweiflung. Liebt er sie wirklich so sehr, wie sie es braucht? Um das herauszufinden, schlägt sie dem verunsicherten Einzelgänger vor, einen Roman über ihr Miteinander zu schreiben. Er lässt sich darauf ein. Zunächst unmerklich, dann überaus heftig, gehen Fiktion und Realität ineinander über. Bald sieht es ganz danach aus, als diktiere das Geschriebene den Fortgang des Geschehens. Was die zwei keineswegs näher zueinander bringt. Im Gegenteil. Sie driften auf geradezu tödliche Art und Weise auseinander. Kunst und Leben prallen in der von ihm verfassten Erzählung aufeinander. Und können nicht zueinander kommen. Schnell wird klar, dass in der Kunst allzu oft der Wunsch nach Erfüllung den Ton angibt. Walter erzählt immer weniger wirklich Erlebtes, sondern schreibt mehr und mehr auf, wie er sich den Fortgang der Beziehung erträumt. Die Folgen sind fatal …
1998 hat der Deutschschweizer Peter Stamm seinen Debütroman „Agnes“ veröffentlicht. Bis heute hat das Buch nichts von seiner Kraft eingebüßt. Stamm, sprachgewaltig, ohne zu tönen, erkundet die Möglichkeiten und Unmöglichkeiten des Liebens und des sich-lieben-lassens. Die Unmöglichkeit, dass zwei Menschen, wie sehr sie einander auch zugetan sein mögen, einander wirklich bis ins Innerste erkennen können, den anderen tatsächlich verstehen, arbeitet er ohne Zweifel heraus. In viele kleine und kleinste Kapitel eingeteilt, wirkt sein Roman wie ein Mosaik. Dabei überlässt er es dem Leser, eine eigene Ordnung herzustellen. Jeder der das Buch liest, muss für sich selbst entscheiden, wie die Geschichte abläuft, was ihr Ende markiert, welche Szenen von den Protagonisten innerhalb des Geschehens wirklich erlebt und welche „nur“ imaginiert werden. – Nicht gerade ein Steilvorlage für einen Spielfilm.
Nora Lämmermann und Regisseur Johannes Schmid, die gemeinsam das Drehbuch geschrieben haben, ließen sich jedoch nicht abschrecken. Sie haben klug ver- und umgedichtet. Die Geschichte wird von ihnen recht flüssig erzählt. Die Handlung wurde, sicher auch aus Kostengründen, hier und da vereinfacht, etwa der Ort des Geschehens von Chicago nach Düsseldorf verlegt, manches gerafft. Das Wesentliche der Erzählung aber ist dadurch nicht beschädigt. Erhalten blieb das Changieren zwischen den Ebenen. Als Zuschauer weiß man oft nicht, ob man nun Vorgänge sieht, die Walter und Agnes erleben oder ob das Gezeigte nur in dem von ihm Aufgeschriebenen vorkommt. So ist schließlich auch nicht klar, ob die Liebe des Paares tatsächlich ein tödliches Finale gefunden hat.
Entscheidend für den Sog der psychologisch fein ziselierten Geschichte ist – neben der exzellenten Bildgestaltung (Kamera: Michael Bertl) und der alles Grelle vermeidenden Inszenierung – das Schauspiel. Odine Johne als Agnes und Stephan Kampwirth strahlen eine selbstverständlich anmutende Intensität aus. Man glaubt ihnen jeden Moment und ist drum rasch an ihrer Seite. Dadurch überträgt sich die Hilflosigkeit der Protagonisten in enormem Maß. Man möchte zu Ihnen eilen und ihnen helfend beistehen. Doch das kann man ja nicht mal, wenn man einem unglücklichen Paar in der Realität begegnet. Anderes wird denn auch wichtiger: Nämlich wie der Film im Kopf des Kinobesuchers nachwirkt, den Betrachter darüber nachdenken lässt, wie er es eigentlich hält mit der Offenheit gegenüber anderen Menschen …
Ein Film, der bleibt. So wie einem das Bild von Odine Johne nicht mehr aus dem Kopf geht. Sie mutet engelsgleich und erdverbunden im selben Moment an. Sie lässt der Agnes alle Geheimnisse und entreißt ihr doch schonungslos viele Masken, mit denen sie sich vor sich selbst verstecken möchte. Ihr Spiel ist ganz zart und dabei brutal deutlich zugleich, wenn es um das Freilegen menschlicher Schwäche geht. – Es ist zu hoffen, dass Odine Johne viele große Rollen in guten Projekten angeboten bekommt, und dass sie so klug wählt, wie in diesem Fall. Oder ist es wieder anders: hat nicht sie die Agnes, sondern hat die Agnes sie gewählt?
Peter Claus
Bilder: © Neue Visionen
Agnes, von Johannes Schmid (Deutschland 2016)
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