„Desde Allá“ (From Afar) von Lorenzo Vigas aus Venezuela gewinnt den Goldenen Löwen.

Jury-Entscheide am Ende großer Filmfestivals gehen gern energisch an den Erwartungen von Publikum und Kritik vorbei. So nun auch zum Abschluss der 72. Mostra Internazionale d’Arte Cinematografica in Venedig.

Der ersten Überraschung folgte das Nachdenken und dem folgt Beifall für die Jury unter ihrem Präsidenten Alfonso Cuarón aus Mexiko, der das Festival vor zwei Jahren mit seinem später „Oscar“-gekrönten philosophischen Science-Fiction-Drama „Gravity“ eröffnet hatte.

Der Goldene Löwe „Desde Allá“ geht an Regisseur Lorenzo Vigas, Jahrgang 1967, aus Venezuela. Er erzählt in seinem Spielfilm-Debüt eine Lovestory voller Tücken. Der 50jährige Armando verliebt sich in den 17jährigen Elder. Reicher Mann und armer Junge -– das kann nicht gut gehen. Allein die unterschiedliche soziale Herkunft sorgt für Konfrontation und Reibung. Die auf jegliche Effekte verzichtende Inszenierung erkundet das Mit- und Gegeneinander der Beiden ganz ruhig, sehr genau. Dabei gelingt es, über die Spiegelung von Privatem ein Gesellschaftsbild zu entwerfen. Bezwingend!

Es ist nachvollziehbar, warum die Juroren so entschieden haben. Das Team, zu dem die in Hollywood und Frankreich erfolgreiche deutsche Schauspielerin Diane Kruger gehörte, würdigt damit eine Neuausrichtung des Wettbewerbs auf in der Welt noch unbekannte Talente. Alberto Barbera, der Chef in Venedig, zeigte im Wettbewerb der 20 Spiel- und Dokumentarfilme und dazu noch ein Animationsfilm 16 von bisher zumindest außerhalb ihrer jeweiligen Heimat noch nicht prominenten Regisseuren. Ein cleverer Schachzug. Barbera schärft damit das Profil des Festivals und stärkt dessen Position gegenüber dem Konkurrenten Toronto, wo der Kommerz sein zuhause hat.

Auch die übrigen Hauptpreise unterstützen Barberas Intention. Bester Regisseur wurde Pablo Trapero aus Argentinien. Er blickt in seinem auf Tatsachen basierenden Thriller „El Clan“ in die 1980er Jahre. Die Militärdiktatur musste abtreten, eine Demokratie wurde etabliert. Eine auf Verbrechen im Stil der Mafia spezialisierte Familie bringt das zu Fall. Trapero versteht sich darauf, Spannung zu erzeugen. Aber nicht um ihrer selbst willen. Der filmische Ausflug in die Vergangenheit will Gegenwart erkunden. In Argentinien geht es derzeit darum, Reformen einzuleiten, die das Geflecht aus Politik, Wirtschaft und Verbrechen zerschlagen helfen. Weiteste Kreise der Bevölkerung diskutieren darüber und hoffen darauf. Auch dieser Film. Ihn auszuzeichnen ist also als deutliches Statement zu werten.

Der israelische Regisseur Amos Gitai ging bedauerlicherweise leer aus. Sein Essay „Rabin, the Last Day“ wurde übergangen. Doch die Jury folgte einem Wort von Amos Gitai, das er auf seinen Film gemünzt hatte, das jedoch wie ein Motto über dem Festival schwebte: „Wenn die Gegenwart dunkel ist, müssen wir zurückblicken, um Regeln für die Zukunft zu finden.“ Sämtliche Filme und Einzelleistungen, die eine Auszeichnung gewonnen haben, spiegeln die Suche nach Regeln für ein würdevolles menschliches Miteinander.

Immerhin eine Erwartung von Publikum und Kritik hat sich erfüllt: die Italienerin Valeria Golino bekam für ihre so mitreißende wie bewegende Interpretation einer Hausfrau und mehrfachen Mutter in Neapel, die über sich hinauswachsen muss um einem düsteren Geflecht von Armut und Verbrechen zu entkommen, in „Per Amor Vostro“ die Coppa Volpi als beste Schauspielerin des Festivals. Der Franzose Patrice Luchini, durfte sich, auch damit hatten viele gerechnet, über die Auszeichnung als bester Schauspieler freuen (in „Der Hermelin“). Wie alle Auszeichnungen in Venedig, stehen auch diese für ein Kino voller Intelligenz und Emotionen, ein Kino für mündige Zuschauer, die nach Inspiration suchen, um sich über die Auseinandersetzung mit der Kunst mit der eigenen Lebensrealität zu befassen.

 

Die wichtigsten Auszeichnungen der 72. Mostra internazionale d’arte cinematografica

Goldener Löwe für den besten Film: „Desde allá“ von Lorenzo Vigas, Venezuela

Großer Preis der Jury: „Anomalisa“ von Charlie Kaufman und Duke Johnson, USA

Silberner Löwe für die beste Regie: Pablo Trapero für „El Clan“ , Argentinien

Spezialpreis der Jury: „Abluka“ von Emin Alper, Türkei

Preis für den besten Schauspieler: Fabrice Luchini für „L’hermine“ von Christian Vincent, Frankreich

Preis für die beste Schauspielerin: Valeria Golino für „Per amor vostro“ von Giuseppe M. Gaudino, Italien

Preis für das beste Drehbuch: Christian Vincent für „L’hermine“, Frankreich

Marcello-Mastroianni-Preis für den besten Jungdarsteller: Abraham Attah für
„Beasts of No Nation“ von Cary Fukunaga

 

Peter Claus  13-09-15

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Schon lang nicht mehr konnte ein internationales Filmfestival mit einem derart grandiosen Abschluss des Wettbewerbs aufwarten. Gut gebrüllt, Löwe!

Im Kino ist es wie beim Essen, wie in der Liebe, ja überhaupt wie im wahren Leben: Das Beste kommt zum Schluss. Hier auf der 72. Mostra der letzte Beitrag im internationalen Wettbewerb um den Goldenen Löwen, der vierte im Quartett der italienischen Filme in der Konkurrenz: „Per Amor Vostro (Anna)“, auf Deutsch „Deinetwegen (Anna)“ von Regisseur Giuseppe M. Gaudino.

Der Spielfilm, der mehrfach auch mit Elementen des Trickfilms arbeitet, blickt in die Gegenwart Neapels, dieser schönen und wilden Stadt mit dem schlechten Ruf. Althergebrachte Verteilung der Geschlechterrollen, die Macht der Mafia, oft übersteigerte Religiosität belasten den Alltag vieler. Auch der Hauptfigur. Sie heißt Anna, ist verheiratet, dreifache Mutter, hat gerade einen Job bei einer Fernsehgesellschaft bekommen. Dort muss sie während Dreharbeiten einer Soap den Akteuren auf riesigen weißen Papieren die Dialoge unter die Nasen halten. Anna bleibt im Schatten. Wie schon so oft, etwa damals, als sie, weil ein kleines Mädchen und deshalb nicht mit langer Gefängnisstrafe bedroht, für den Diebstahl eines Anderen aus der Familie herhalten muss und dafür über Jahre zu eifrig frömmelnden Schwestern abgeschoben wird. Ihr Mann ist ein Schwein. Er macht sein Geld damit, dass er als Handlanger für das organisierte Verbrechen arbeitet, Leuten Geld borgt und sie dann, wenn sie den Kredit nicht zurückzahlen können, um ihr Hab und Gut, um Haus und Hof bringt. Anna sieht über all das lange hinweg, lässt sich abschieben, auch schlagen. Doch irgendwann kann sie nicht mehr. Und sie steht vor der Frage, ob sie sich fügt und damit selbst aufgibt, oder ob sie rebelliert. Als ihr einer der Fernsehschauspieler Avancen macht, sieht sie ihre Chance. Doch der Schönling trägt nur eine Maske. Dahinter verbirgt sich genauso gewöhnliche Grausamkeit, wie Anna sie schon zu oft erlebt hat.

Der Film ist wild und exzessiv. Die Bilder überschlagen sich oft. Annas inneres Chaos wird geschickt durch äußerliche Absurditäten gespiegelt. Reizvoll dazu: Die Erkundung Neapels jenseits touristischer Pfade, bis in den Untergrund, in die Katakomben, da, wo die Knochen der Verstorbenen lagern … Valeria Golino spielt die Hauptrolle. Es wirkt, als spiele sie selbst um ihr Leben. Selbst Ende 40, auch als Regisseurin erfahren, gibt sie der Anna eine wirklich wunderbare Authentizität, übersteigert nie, zeigt Verzweiflung und Hoffnung immer so, dass jeder Moment glaubwürdig ist.

Fern von sentimentalen Anwandlungen öffnet sie dem Publikum das Herz dieser Frau. Ohne Zweifel hat Valeria Golino die Auszeichnung als Beste Schauspielerin des Festivals verdient. Ist die Jury mutig, dann gibt sie ihr die, und dem Film dazu einen der Hauptpreise – gar der Goldene Löwe ist denkbar. Verdient haben’s der Film, sein Regisseur, der auch am Drehbuch mitgeschrieben hat, und allen voran Valeria Golino, ohne Wenn und Aber. Schon lang nicht mehr konnte ein internationales Filmfestival mit einem derart grandiosen Abschluss des Wettbewerbs aufwarten. Gut gebrüllt, Löwe!

Peter Claus  11-09-15

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Schon vor den ersten Vorführungen hier in Venedig hatten Kritiker-Kolleginnen und Kollegen, die den Film bereits vorab hatten sehen können, die Erwartungen auf „Remember“ damit hoch geschraubt, dass sie extrem unterschiedliche Ansichten vertraten: die einen jubelten, die anderen sprachen von einem Desaster. Genauso ist nun auch das Festival-Echo auf die kanadisch-deutsche Co-Produktion. Der neue Spielfilm des armenisch-kanadischen Regisseurs Atom Egoyan bekam Beifall und Buh.

„Remember“ ist ein Thriller, der Anspruch vorgibt. Es wird der Eindruck erweckt, es solle eine Reflexion des Grauens der Nazi-Zeit angestrebt werden. Anfangs erinnert man sich, ob der traditionellen Erzählform, an bekannte Hollywood-Filme zum Thema, etwa John Schlesingers „Der Marathonmann“ (1976) oder Constantin Costa-Gavras’ „Music Box“ (1989). Die Hauptrolle spielt zudem ein Hollywood-Veteran, der 85-jährige Christopher Plummer, 2012 ausgezeichnet mit dem „Oscar“ als bester Nebendarsteller in „Beginners“. Der aus Kanada stammende Schauspielstar verkörpert einen an Demenz leidenden Greis. Eine in den linken Unterarm tätowierte Nummer kennzeichnet ihn als Überlebenden der Hölle des Konzentrationslagers Auschwitz. Seine Frau ist gerade erst verstorben, er selbst rutscht mehr und mehr ins Vergessen. Angestachelt von einem Freund im Altenheim (Martin Landau), in dem er seit einiger Zeit lebt, macht er sich trotzdem auf den Weg quer durch Nordamerika. Er will einen einstigen SS-Mann finden, der sich nun schon seit Jahrzehnten mit einem falschen Namen der Gerechtigkeit entzogen hat. Die Reise wird mehr als beschwerlich …

Christopher Plummer mutet so fragil an wie wohl nie zuvor. Er agiert ganz fein, meist sehr leise, zeigt die Pein der Demenz eindringlich, ohne sie oberflächlich auszustellen. Es ist gut möglich, dass er am Samstag als bester Hauptdarsteller des Festivals ausgezeichnet wird. Die Story und die Inszenierung entsprechen Christopher Plummer leider nicht. Atom Egoyan hat den Film ganz auf Thrill getrimmt. Die Handlung läuft in durchschaubarer Konstruktion auf ein krimiübliches Finale zu. Nun verbietet es sich, überraschende Filmenden zu verraten. Geschrieben werden aber muss: Das Finale ist problematisch, sehr sogar. Im knalligen Showdown nämlich wird alle notwendige Ernsthaftigkeit in der Auseinandersetzung mit den widerwärtigen Untaten der deutschen Faschisten an billige Effekthascherei verraten.

Gute Entdeckung außerhalb des Wettbewerbs ist der Dokumentarfilm „Torn“ von Regisseur Alessandro Gassmann. Sein Thema ist hoch aktuell: das Leben von syrischen Künstlern im Exil sowie deren Flucht vor dem Bürgerkrieg nach Jordanien und Libanon. Der vom UNO-Flüchtlingshilfswerk UNHCR produzierte Film packt mit seiner ungeschminkten Unmittelbarkeit. Alle Qual des Bürgerkrieges spiegelt sich in den offenen Gesichtern der Protagonisten. Ruhig formulieren sie ihre Ängste und Hoffnungen. Große dramatische Aussagen gibt es nicht. Der Sohn des italienischen Schauspielstars Vittorio Gassman hat ein feines Gespür für Zwischentöne. Man hört alles in kleinen Sätzen, etwa wenn da ein Musiker sagt: „Ich bin ein Künstler. Und wir Künstler wollen die Kunst retten.“

Peter Claus  10-09-15

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Die Gerüchteküche brodelt. Erste Schlaumeier wollen schon wissen, welche Entscheidungen die Jury getroffen haben soll. Was ziemlicher Blödsinn ist. Denn es sind ja noch gar nicht alle Beiträge des Wettbewerbs um den Goldenen Löwen gelaufen. Aber derartige Spielereien gehören nun mal zum Festival-Rummel.

Von diesem Rummel erholt man sich hier am besten im Kino, zum Beispiel in den Aufführungen der Reihe „Venezia Classici“. Hier gab’s zum Beispiel liebevoll restaurierte Fassungen von Fellinis „Amarcord“ und Lubitschs „Heaven Can Wait“ zu sehen. Letzterer kam 1943 heraus, ersterer dreißig Jahre später, 1973. Beide begeistern mit virtueller Virtuosität und Herzensgüte. Stilistisch, was die Art des Erzählens betrifft, Lichtjahre voneinander entfernt, eint die so unterschiedlichen Spielfilme die Fabulierlust der Regisseure, deren Spaß an witziger Weltbetrachtung, ihr Können, in einer Sekunde ganz leicht und komödiantisch aufzutreten, um in der nächsten einer bitteren Melancholie zu frönen. Und, wie schon geschrieben, da ist jeweils eine große Herzensgüte zu spüren. Pures Vergnügen.

Das Vergnügen hielt sich im Wettbewerb eher in engen Grenzen. Leider weitgehend einhellig: die Ablehnung von Laurie Andersons „Heart of a Dog“ (USA). Die Multi-Künstlerin denkt in diesem Essay über den ewigen Zyklus von Leben und Sterben nach. Eine wirkliche Erzählung ergibt sich nicht, war wohl auch nicht gewollt. Andersons sinniert, und kommt dabei leider nicht über pubertäre Plattitüden hinaus. Schade.

Gemischt fiel die Reaktion auf „11 Minutes“ (Polen / Irland) von Regisseur Jerzy Skolimowki aus. Zustimmung und Ablehnung halten sich nach den ersten beiden Vorführungen die Waage. Skolimowski, berühmt geworden mit dem Gewinn des Goldbären der Berlinale 1967 für „Der Start“, bietet, was er schon damals geboten hat: Kapitalismuskritik. Mit oft wilder Kamera und noch wilderen Schnitten verbindet er mehrere Momentaufnahmen von der allgegenwärtigen Einsamkeit des Einzelnen zu einem nervösen Reigen. Von Anfang an liegt ein schwüler Fatalismus über allem. Man ahnt, dass es am Ende einige Tote geben wird …

Wär’ dies ein Debüt-Filme, würde man sagen: nicht schlecht, lerne noch ein bisschen was über das Handwerk des Erzählens und dann dreh deinen nächsten Film. Skolimowski aber ist ein Altmeister. Die pure Effekthascherei der Flut von Schicksalsschlägen rund um einen zentralen Platz in Warschau (es könnte aber auch Paris, London, New York sein) wirkt zu unausgegoren. Es fehlt an spürbarer Gestaltung, sogar an Schauspielführung. Aber, wie schon angedeutet, es gibt auch dafür Fans. Die pochen auf die ungemeine Energie, die für sie von dem Wust an Lug und Trug, Verbrechen und Verlorenheit ausgeht. Auch hier gilt mal wieder: zwei Kritiker, mindestens drei Meinungen.

Peter Claus  09-09-15

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„Anomalisa“ – der einzige Animationfilm des Festivals begeistert die Zuschauer und ist ein Kandidat

Der Endspurt der Löwenjagd hat begonnen – und das mit Filmen, die jede Menge anbieten, um sich aufs Schönste über sie zu streiten.

Da ist zum Beispiel „Abluka“ (Blockade), der den internationalen Verleihtitel „Frenzy“ (Rausch oder Wahn) hat, eine Gemeinschaftsproduktion Türkei, Frankreich und Katar. Autor und Regisseur Emin Alper entwirft ein düsteres Bild vom Leben am Rand der großen Städte in der Türkei. Die Protagonisten leben in Armut und Angst. Unentwegt wird auf terroristische Anschläge verwiesen. Unsicherheit bestimmt die Atmosphäre. Im Zentrum des Spielfilms steht allerdings die Beziehung zweier Brüder: der eine, gerade erst aus dem Gefängnis entlassen, schlägt sich als Müllsortierer durch, der andere lebt weitestgehend zurückgezogen, seine Frau ist mit den Kindern abgehauen. Beide Männer sind nicht in der Lage, sehr viel weiter als über den eigenen Tellerrand zu blicken. Das macht sie zu willfährigen Opfern des Systems – und zugleich zu Tätern.

Die einen feiern „Abluka“ als einen der besten Wettbewerbsbeiträge, die anderen lehnen ihn wegen einer tatsächlich recht hölzernen Erzählweise und ebensolchem Schauspiel ab. Schwierigkeiten bereitet zudem der Umstand, dass zu viele Einzelheiten der Story im Nebulösen bleiben, wodurch man die Charaktere – und deren Eingebunden-Sein in gesellschaftliche Denk- und Handlungsmuster – nicht wirklich nachvollziehen kann. So bleibt die angepeilte Sozialkritik letztlich auch nur im Ungefähren.

Streit in schönstem Sinne löste auch der Animationsfilm „Anomalisa“ (USA) von Charlie Kaufman und Duke Johnson aus. Ein Puppentrickfilm. Figuren, die sich auf unangenehme Art alle sehr ähneln (Achtung: Wir leben in einer Welt der Gleichmacherei!) und auch alle ähnlich sprechen, mit einem unglücklichen Geschäftsmann an der Spitze. Einsamkeit, Beziehungsängste, Karrieredruck – viele kapitalismuskritische Stichworte fallen einem angesichts der Ballade von den traurigen Kindern des Mammons ein. Doch die Wirkung ist gering. Man denkt unwillkürlich an den Spielfilm „Being John Malkovich“, zu dem Kaufman das Drehbuch geschrieben hat. Auch da sind all diese Stichworte drin. Doch es wird mehr daraus. Hier bleibt am Ende nicht viel mehr als eine kleine Prise Traurigkeit darüber, dass es so viele Menschen gibt, denen das Leben keinen Spaß macht. Doch man kommt schnell drüber hinweg.

Weniger Streit denn Gelächter löste „Blut von meinem Blute“ des italienischen Altmeisters Marco Bellocchio aus. Die italienisch-französisch-schweizerische Produktion zerfällt in zwei Teile. Beide spielen in der norditalienischen Stadt Bobbio. Zunächst geht es weit in die Vergangenheit: In einem Kloster-Gefängnis wird eine Schwester beschuldigt, sie habe sich dem Teufel verschrieben und einen angehenden Priester erst verführt, dann in den Selbstmord getrieben. Ausführlich wird gezeigt, wie sich von Kirchenoberen gepeinigt wird. Die Kritik an fundamentalistischer Religiosität ist überdeutlich. Der zweite Teil des Films führt dann in der Gegenwart an den gleichen Ort, an dem sich nun merkwürdige Menschlein tummeln, gar einer, der als Vampir angesehen wird. Am Ende kommen beide Ebenen zusammen und die eins gequälte junge Frau erscheint rein und gesund wie eine Art Engel der Unschuld.

Manche Bilder delirieren regelrecht, andere geben Architektur und Natur erhellend Raum. Doch die Akteure wirken darin meist verloren, haben kaum Chancen, begreifbare Figuren zu gestalten. Man weiß als Zuschauer nicht recht, was all das soll. Belocchio hat in Venedig in Statements darauf gepocht, mit dem Film ein Bild der politischen Korruption Italiens zeichnen zu wollen. Mag sein, dass er’s wollte. Gelungen ist es ihm nicht.

Peter Claus  08-09-15

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Film über das Attentat auf Yitzhak Rabin

Tja, wie schön: die Jury hat’s schwer. Schon zur Halbzeit stapeln sich die Löwen-Kandidaten. Wobei es einen eindeutigen Favoriten gibt: die israelisch-französische Ko-Produktion „Rabin, The Last Day“.

Regisseur Amos Gitai („Free Zone“ / 2005) offeriert eine Mischung aus Dokumentar- und Spielfilm, wie schon Aleksander Sokurow in „Francofonia“, aber viel eingängiger. In intelligenter Montage von Archivmaterial und Spielszenen blickt er zurück auf den 4. November 1995, den Tag der Ermordung des damaligen israelischen Ministerpräsidenten Yitzhak Rabin. Er beleuchtet auch die seinerzeitigen innenpolitischen Kämpfe in Israel vor der Tat. Dazu erkundet er (vor allem in Spielszenen) den Verlauf der Ermittlungen in der Zeit danach.

Der Filmauftakt macht sofort deutlich: es geht über den Rückblick in Richtung Gegenwart. Amos Gitai beginnt den Film mit einem aktuellen Interview mit Rains Weggefährten Schimon Peres. 1994 hatte Peres zusammen mit Jassir Arafat und Yitzhak Rabin den Friedensnobelpreis für die Verdienste im Oslo-Friedensprozess bekommen. Peres sagt heute ohne Umschweife: Wäre Rabin nicht getötet worden, dann hätte der Friedensprozess in Israel fortschreiten können und das Land wäre heute vielleicht nicht soweit, wie Rabin es hatte bringen wollen, doch es befände sich seiner Meinung nach in einer politisch viel stabileren und sichereren Lage.

Der damalige Friedensprozess war ganz offenkundig vielen, auch vielen politisch Verantwortlichen, ein Dorn im Auge. Der Attentäter Jigal Amir hat nach dem Verbrechen im Geheimen einigen Beifall erhalten. Da wundert es nicht, dass Amos Gitai eine Untersuchungskommission zeigt, bei der man oft den Eindruck hat, es gehe ihr eher um Vertuschung als um Aufklärung. Schon oft wurde die Frage gestellt, ob es damals ein Komplott war, ob höchste Würdenträger des Staates in die Ermordung verwickelt waren. Die Frage drängt sich angesichts des Films dem Zuschauer auf. Amos Gitai aber stellt sie nicht direkt. Diesbezügliche Spekulationen lässt er erfreulicherweise außen vor. Er bleibt sachlich, ruhig, besonnen. Und macht gerade dadurch sehr deutlich, was er sagen will: Frieden in Nahost muss von der Politik durchgesetzt werden. Und zwar schleunigst. Gitai hält ein kraftvolles Plädoyer für schlichte Vernunft als wirkungsvollstes Mittel politischer Veränderungen zum Positiven.

„Rabin, The Last Day“ lässt sämtliche bisher gezeigten anderen Wettbewerbsbeiträge ein wenig klein anmuten. Das ist natürlich ungerecht. Kein Mensch möchte nur Filme wie diesen sehen. Massenwirksame Unterhaltung hat ihre Berechtigung, auch auf diesem Festival, zumal dann, wenn sie gehaltvoll ist. Etwa der französische Wettbewerbsbeitrag „L’ Hermine“, eine gelungene Mischung aus Gerichts-Krimi und Lovestory der leisen Art. Da trifft ein Richter, der gerade in Trennung von seiner Frau lebt, eine Flamme von einst, die inzwischen geschieden ist, wieder. Die Suche nach der Wahrheit im Prozess gegen einen jungen Mann, der angeklagt ist, seine kleine Tochter getötet zu haben, und die Suche nach der Wahrhaftigkeit der Beziehung, die er und sie vielleicht aufbauen könnten, haben überraschend viel gemeinsam. Fabrice Luchini („Das Schmuckstück“) und Sidse Babett Knudsen, bekannt aus der dänischen TV-Serie „Borgen – Gefährliche Seilschaften“, agieren mit hinreißendem Understatement. Blicke und Gesten sagen alles über die Schieflage der Gefühle. Wobei die Frage, ob der junge Mann wirklich schuldig ist oder nicht, die Spannung durchgehend aufrecht hält. Am Ende dann: eine wunderbare Liebeserklärung, in der das Wort Liebe nicht einmal vorkommt, während der sich niemand auch nur flüchtig berührt, die jedoch krachdonnernd heftig ist und das gesamte Kino zu schönsten Seufzern verleitet. Ein großer Spaß mit manch psychologisch in die Tiefe gehendem Moment. Wirklich: sehr angenehme Unterhaltung. In der Flut sehr ernster und oft ungemein dramatischer Wettbewerbsbeiträge tut das zwischendurch einfach nur gut.

Peter Claus  07-09-15

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Tilda Swinton als Rockstar in Luca Guadagninos „A Bigger Splash“

Fixpunkt für Deutsche und Freunde des deutschen Kinos beim Internationalen Filmfestival Venedig: der Empfang der Film- und Medienstiftung NRW, auch bei der 72. Ausgabe des Festivals. Launige Rede der Chefin, Petra Müller, selbstbewusster Stargast Alexander Sokurow, dessen von den Düsseldorfern geförderter Film „Francofonia“ bisher zu den Highlights des Festivals gehört, und, liebenswertester Gast, Produzent Thomas Kufus, zu recht glücklich über den immensen Erfolg von „Der Staat gegen Fritz Bauer“ beim vor drei Wochen zu Ende gegangenen Filmfestival von Locarno, wo es wohlverdient den begehrten Publikumspreis gab.

In Venedig gab’s heute mehrfach Buh-Rufe im Wettbewerbsprogramm. Zum Beispiel für „A Bigger Splash“. Thema des Films: die innere Armut reicher Leute, Künstler vor allem. Im Zentrum: eine gealterte Rockröhre, verkörpert von Tilda Swinton. Liebe, Triebe, innere Leere im Ringelrein. Swinton, klar, klasse, wenn man ihre Manierismen mag. Das Gleiche gilt für Ralph Fiennes. Und sonst. Nichts. Leider.

Buh-Rufe gab es auch für den südafrikanischen Wettbewerbsbeitrag „The Endless River“. Ungerechterweise. Erzählt wird eine Kriminalgeschichte. Ausgangspunkt: die Ermordung einer Frau und ihrer zwei kleinen Kinder. Der Witwer will Rache. Ein möglicher Täter ist schnell ausgemacht. Nur: war er es wirklich, gemeinsam mit Kumpels? – Der Zuschauer will Antwort auf die Frage. Der Film verweigert sie. Dem Regisseur Oliver Hermanus nämlich geht es um anderes. Er will zeigen, wie eine allgemeine Unsicherheit das Leben von Weiß und Schwarz in Südafrika heute, nach der Apartheid, dominiert. Und das gelingt hervorragend – ganz ruhig, beängstigen ruhig. Man sitzt da, und fragt sich, wie man sich selbst Verhalten würde, wenn um einen herum nur Menschen leben, deren Kultur einem fremd ist. Hochdramatisch, sehr spannend. Und anregend zum Nachdenken über Fragen, wie sich der Alltag neu ordnen muss in einem Europa, dass mehr und mehr von einer Flut von Flüchtlingen bestimmt wird.

Auffallend: Die Mehrzahl der filmischen Venedig-Novitäten beruht auf Tatsachen. Nichts mehr mit Hollywood-Glamour. „Bigger than life“ is out. Das Kino macht sich auf, die Wirklichkeit zu entdecken. Gut so. Obergut: Die Häppchen beim NRW-Empfang. Bellissimo!

Peter Claus  06-09-15

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Eddie Redmayne spielt in  „The Danish Girl“ die Transsexuelle Lili Elbe

Stars, Stars, Stars. Nun also der Brite Eddie Redmayne, seit seinem „Oscar“-Gewinn als bester Hauptdarsteller in „Die Endteckung der Unendlichkeit“ hoch gehandelt. Er spielt „The Danish Girl“ unter Regie von Tom Hooper („The King’s Speech“). Noch ein Venedig-Film, der auf Tatsachen beruht. Redmayne spielt den Dänen Einar Wegener, der sich Anfang der 1930er Jahre in Dresden einer Operation unterzogen hat, um zur Frau, zu Lili Elbe, zu werden. Leider krankt der Film an einem unangenehmen Hang zur Sentimentalität, gerade auch was das Spiel von Redmayne betrifft. Neben ihm agiert Alicia Vikander, bekannt spätestens seit „Ex Machina“ als Wegeners Ehefrau, die erst ihn, dann Lili aufopferungsvoll begleitet. Es ist frappierend, wie sie mit kleinsten Mitteln größte Wirkung erzielt, keine Posen braucht, um seelische Erschütterungen auszudrücken. Redmayne wirkt neben ihr oft geradezu grob in seiner Darstellung, vor allem dann, wenn er Einar darstellt. Als Lili hat er Momente von stiller Innerlichkeit, die sehr berühren. Doch wenn dann am Ende zu kitschiger Musik ein Seidenschal im Wind flattert, geht alles Ergriffen-Sein flöten.

Wirklich ergreifend: die Dokumentation „Janis“, gezeigt im Wettbewerb der Sektion „Horizonti“. Regisseurin Amy Berg hat Archivmaterial (Auftritte von Janis Joplin und Interviews), alte Fotos, neu aufgenommene Statements von Wegbegleitern der Sängerin und Auszüge aus Briefen von ihr zu einem faszinierenden Porträt der 1970 verstorbenen Künstlerin vereint. Dabei findet keine Heroisierung statt. Janis Joplin wird als arme Kreatur erkennbar, die den Ruhm suchte und dann, als sie ihn hatte, nicht damit leben konnte. Fans von Janis Joplin dürfte der Film ziemlich schockieren. In einem zentralen Moment, Aufnahmen aus dem Jahr 1970, sieht man die damals 27-Jährige, die aussieht wie eine ungepflegte Frau von Anfang 60, die sich unentwegt kratzt, weil sie von Jucken geplagt wird, die auf simpelste Fragen kaum mehr sinnvoll antworten kann. Man sieht ein Drogenopfer. Und man verflucht alle, die mit Heroin (damals) oder Crystal Meth (heute) oder sonstwas ihre Profitgier stillen.

Sehr spannend obendrein: scheinbar ganz nebenbei wird die Doku zu einem Spiegel gesellschaftlichen Aufbegehrens in den USA der 1960er Jahre. Man fragt sich am Ende erschüttert, wo denn all die Kraft der vielen Leute geblieben ist, die damals offenen Herzens und Geistes für Gleichheit, Freiheit, Brüderlichkeit gekämpft haben. So wird der Film auch zu einer Grablegung des viel beschworenen „all-american dream“. Venedig wird immer wieder seinem Ruf gerecht, ein auch für politisch interessierte Kino-Gänger interessantes Festival zu sein.

Peter Claus  05-09-15

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Johnny Depp als brutaler Mafiaboss mit Glatze

Trubel auf dem Lido di Venezia. Der Grund: Johnny Depps Teilnahme am Filmfestival. Schon Stunden vor der angekündigten Pressekonferenz balgen sich jugendliche Fans an jenem Bootssteg, an dem der Hollywood-Star anlanden muss. Die Stimmung ist ausgelassen, fröhlich. Pappschilder mit „We love you!“ oder „Your are the best!“ werden präpariert. Die Stimmung bleibt auch noch gut, als die Fläche hinter den von vielen Polizisten gesicherten Absperrgittern viel zu eng wird. Die Erwartung des Idols stimmt alle sanftmütig. Dann ist er da, kurz, sehr kurz nur zu sehen, ehe er im Gebäude verschwindet, um über Hintertreppen in den Raum geführt zu werden, in dem die Journalisten auf ihn warten. Sie geben sich, natürlich, cool, wiewohl auch hier der Ansturm und das Gedränge groß sind. Doch rasch macht sich Enttäuschung aus. Depp wirkt fahrig, hat nichts zu sagen, mutet wie der Schatten eines Mannes in den besten Jahren an. Was bleibt, ist das traurige Bild eines müden Clowns.

Im Anti-Mafia-Thriller „Black Mass“ (USA) allerdings bietet Johnny Depp bestes Schauspiel. Regisseur Scott Cooper hat ja schon vor sechs Jahren Jeff Bridges in „Crazy Heart“ zu einer Höchstleistung geführt, die ihm gar einen „Oscar“ bescherte. Dieses Mal also Johnny Depp. Der erweist sich in der Rolle eines ausgebufften Gangsters als exzellenter Charakterdarsteller. Mit dem Ansatz eines Schmerbauchs und einer Halbglatze wirkt er recht harmlos. Doch der Mann ist ein Biest. Dessen Inneres Depp sichtbar macht. Wobei er der Figur auch Geheimnisse lässt, was die Spannung anheizt. Schon lange war der „Fluch der Karibik“-Star nicht mehr so gut in einem Spielfilm. Der, außerhalb des Wettbewerbs gezeigt, erzählt eine auf Tatsachen beruhende Gangsterballade aus den 1970er Jahren. Depp spielt einen Verbrecher, der mit dem FBI zusammen arbeitet, und das nicht aus lauteren Motiven heraus. Die Fragilität von Grenzziehungen zwischen Gut und Böse kommt dabei wirkungsvoll zum Tragen.

Der Wettbewerb bot eine Überraschung: feinste Unterhaltung mit intelligentem Humor. So was hat Seltenheitswert auf internationalen Filmfestivals, da es in den Filmen der Konkurrenz um den Hauptpreis meist sehr gewichtig zugeht. Der französische Regisseur Xavier Giannoli erzählt die Variation einer Geschichte, die ebenfalls ihre Quelle in der Wirklichkeit  hat, die Geschichte der Exzentrikern Florence Foster Jenkins’ (1868 – 1944). Sie war eine vermögende Frau in New York. All ihr Trachten galt der Musik. Sie fühlte sich als begnadete Sopranistin und gab viele Konzerte, obwohl sie nicht singen konnte. Giannoli hat die Geschichte ins Paris der Jahre 1920/21 verlegt, hat Details verändert, hat um die Hauptfigur ein Ensemble vielschichtiger Figuren arrangiert. Zahlreiche kulturhistorische Verweise machen all das sehr klug und vielfarbig. Marguerite, mit hinreißendem Charme verkörpert von Catherine Frot („Die Köchin und der Präsident“), wird dabei nie denunziert. Sie wird zu einer Persönlichkeit, die um jeden Preis ihren Traum verwirklichen will. Dabei lebt sie nach der Devise: „Geld an sich ist nichts. Man muss es nur haben.“ Bei aller Komik ist da immer auch ein Hauch Tragik. Und das Finale schließlich ist gallebitter. Giannoli zeigt deutlich: Die Profitgesellschaft der westlichen Welt kann an Träumen nicht verdienen, also werden die nicht gefördert und Träumer zu Freaks abgestempelt. Letzteres kann durchaus noch Geld einbringen, wie der Film mit bösem Witz zeigt. Ein Kino-Juwel. Hier in Venedig fragen sich nun alle, wie wohl der Spielfilm ist, den Regisseur Stephen Frears nach der gleichen wahren Vorlage gedreht hat, mit Meryl Streep als Florence Foster Jenkins. Ob auch er allen Kitsch vermeidet und einen ebenso feinen Humor pflegt? Frears’ Film soll erst im nächsten Frühjahr in die Kinos kommen. Man wünscht „Marguerite“ bis dahin viel Erfolg, nicht nur hier beim Filmfestival, sondern im Kinoalltag.

Der Erfolg der diesjährigen Filmfestival-Ausgabe zeichnet sich bereits ab. Direktor Alberto Barbera wird seinem Ruf gerecht, der beste Programmgestalter der weltweiten Filmfestival-Szene zu sein. Er bietet Schweres und Leichtes in perfekter Mischung.

Peter Claus  04-09-15

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Alexander Sokurows“ Francofonia“ über den Pariser Louvre

2011 war vielen nach der ersten Aufführung von Alexandr Sokurows „Faust“ klar, dieser Film wird den Goldenen Löwen, den Hauptpreis des Filmfestivals Venedig, gewinnen. Jetzt, bei der 72. Festivalausgabe, hat der russische Regisseur seinen neuen Film vorgestellt. Der Beifall war stark. Doch ob’s zu einem Preis reicht, wagt niemand vorauszusagen.

Aleksandr Sokurows „Francofonia“, eine deutsch-französisch-niederländische Gemeinschaftsprouktion, ist formal sehr spannend. Sokurow vereint Elemente des Dokumentar- und des Spielfilms zu einem eigenwilligen filmischen Essay. Das Interesse des Regisseurs, der auch selbst ins Bild kommt und als Kommentator zu hören ist, gilt der Historie des Louvre. Er befragt das weltberühmte Museum nach seinem Wert als eine der wichtigsten Stätten der kulturellen Identitätsgründung Europas. Viel Schönes kommt ins Bild. Und Grauenvolles: Napoleon Bonaparte tritt auf, die Zeit der kolonialen Herrschaft wird beleuchtet, Hitlers Wahn von der Welteroberung nimmt breiten Raum ein. Nicht jeder visuelle Splitter von Sokurow ist nachvollziehbar, nicht bei all seinen Gedankenlinien möchte man ihm folgen. So denkt er z. B. kurz über den Kunstvandalismus der deutschen Wehrmacht in Russland nach und lässt den hoffentlich falschen und von ihm nicht beabsichtigten Eindruck aufkommen, er wolle Stalin von diesbezüglicher Schuld frei waschen. Insgesamt überwiegt der positive Eindruck. Die Wanderung durch die Zeitgeschichte in unsere Gegenwart hat viele anregende Momente. Das Festivalpublikum reagierte mit deutlicher Zustimmung.

Gemischt wurde hingegen der australische Wettbewerbsbeitrag „Looking for Grace“ aufgenommen. In den Beifall haben sich Buh-Rufe gemischt. Der sehr unprätentiöse Film erzählt von der Flucht einer Halbwüchsigen aus der Familie und dem Versuch eben dieser Familie, das verlorene Kind zurück zu erobern. Über weite Strecken wird das ganz leicht und mit unaufdringlichem Humor erzählt, fast beiläufig. Die Buh-Rufer mag gestört haben, dass die Geschichte an einem entscheidenden Punkt ins Extrem-Dramatische kippt und letztlich eine zentrale Figur unnötigerweise dem Tod geopfert wird, um endlich Harmonie zu finden. Das ist tatsächlich fragwürdig. Aber der Erzählstil gefällt: Immer wieder dreht Regisseurin Sue Brooks die Zeit zurück, beleuchtet Fragmente der Geschichte mehrfach neu aus jeweils anderen Blickwinkeln der verschiedenen Figuren. Das ist äußerst reizvoll. Dazu kommt die eigenartige Faszination, die von der scheinbar unendlich anmutenden Weite Australiens ausgeht. Manchmal wirken die Figuren ganz klein. So wird denn auch darauf verwiesen, dass der Mensch sich viel zu wichtig nimmt. Dass es aber auch anders geht. Und dieser Gedanke entlässt einen regelrecht fröhlich aus dem Kino.

Peter Claus  03-09-15

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Mit dem Bergsteigerdrama „Everest“ begann das 72. Filmfestival von Venedig

Das bildgewaltige Abenteuerdrama, ein auf Tatsachen basierendes pralles Bergsteigerdrama in 3D von Regisseur Baltasar Kormákur („101 101 Reykjavík“) lief als Eröffnungsfilm des Festivals.

Der Film enthält alles, was man von so einem Film erwartet: Männerkonkurrenz und Männerfreundschaft, Liebe, Triebe, Herz und Schmerz und viele Tode. Die Handlung ist überaus voraussehbar. Schon nach den ersten Szenen ist klar, wer von den Bergbezwingern zu den Verlierern, wer zu den Gewinnern gehören wird. Einmal wird die Frage gestellt, warum sich Menschen der Qual eines fast unmöglichen Gipfelsturms aussetzen. Beantwortet wird sie nicht. Dafür gibt es viele spektakuläre Bilder. Trotz des sentimentalen Finales kann man den Film, mit viel gutem Willen, auch als kritischen Blick auf die Bergsteiger-Szene sehen. Denn es wird deutlich, was für Egoisten da am Klettern sind: Menschen, die nicht rechts und nicht links blicken, nur die Befriedigung des eigenen Egos kennen.

Wichtiger: der Auftaktfilm des Wettbewerbs um den Goldenen Löwen, „Beasts of No Nation“ vom US-Amerikaner Cary Fukunaga.

Die geradlinig erzählte Geschichte spielt in einem nicht näher benannten afrikanischen Staat. Es ist Krieg, jeder kämpft gegen jeden. Ein halbwüchsiger Junge wird gezwungen in einer Rebellenarmee als Kindersoldat zu kämpfen. Dem Zuschauer werden keine Details erspart. Das Morden und Schlachten kommt deutlich ins Bild. Der Junge, der auch Erzähler ist, oft ertönt seine Stimme aus dem off, hält sich mit seinem Glauben an Gott mühsam über Wasser. Welche grausamen Taten er auch gezwungen wird zu verüben, er bleibt Mensch. Das ist beeindruckend und bedrückend. Die Schonungslosigkeit der Erzählung geht unter die Haut. Freilich bleibt am Ende die Frage offen, was gegen derartigen Terror unternommen werden kann. Eine Frage, auf die schon die internationale Politik keine Antwort parat hat. Wie soll ein Film sie finden?!

„Beasts of No Nation“ entspricht dem Ruf des Festivals, das politisch engagierte Kino zu fördern – und lässt auf einen starken Wettbewerbsjahrgang hoffen.

Peter Claus  02-09-15

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Das 72. Filmfestival von Venedig startet heute

Die 72. Ausgabe der „Mostra Internazionale d’Arte Cinematografica“ begann wie nun schon viele der vorherigen Ausgaben des Internationalen Filmfestivals Venedig: mit einer Party.
Die US-amerikanische Fachzeitschrift „Variety“ hatte traditionsgemäß ins Luxushotel Danieli nahe des Markusplatzes geladen. Sekt und Selters und ein paar Promis obendrauf. Der Blick von der Dachterrasse des Palastes aus dem späten 14. Jahrhundert ist spektakulär. Chaplin hat ihn schon genossen, die Garbo, die Dietrich, Cary Grant, Meryl Streep, Angelina Jolie und viele andere, Goethe sogar. Da ist klar: Das älteste Filmfestival der Welt baut neben allem Glamour vor allem auch auf die (Kultur-)Geschichte. Hier ist die Kunst ganz natürlich zuhause. Das gilt genauso für die Gegenwart. Man ruht sich nicht auf zugkräftigen Namen bekannter Künstler aus: 16 der 21 Wettbewerbsbeiträge kommen von Regisseuren, die sich zum ersten Mal auf dem Lido der internationalen Konkurrenz stellen. Jugend voran? Abwarten!

Denn selbstverständlich sind auch viele Bekannte da. Ein Beispiel: Atom Egoyan („Exotika“). Der armenischstämmige kanadische Regisseur zeigt die deutsch-kanadische Ko-Produktion „Remember“, einen Thriller mit Jürgen Prochnow, Heinz Lieven und Bruno Ganz in den Hauptrollen. Zweiter Wettbewerbsbeitrag, der von deutschen Produzenten mit ermöglicht wurde, ist der Essay „Francofonia“ von Aleksandr Sokurow, eine deutsch-französisch-niederländische Gemeinschaftsprouktion. Sokurow, der 2011 für seine „Faust“-Version den Goldenen Löwen gewonnen hat, beleuchtet in seinem neuen Film das Mit- und Gegeneinander von Kunst- und Zeitgeschichte mit besonderem Blick auf die Zeit der Besatzung Frankreichs durch die Horden Hitlers und deren Auswirkungen auf das Museum Louvre in Paris. Der deutsch-französische Kurzfilm „New Eyes“ von der aus Äthiopien stammenden Debütantin Hiwot Admasu Getaneh läuft in der Sektion „Horizonte“.

Zur Eröffnung des Festivals läuft heute Abend außer Konkurrenz das Bergsteiger-Drama „Everest“ des spanisch-isländischen Regisseurs Baltasar Kormákur („101 Reykjavík“) mit Jake Gyllenhaal, Keira Knightley, Josh Brolin, Emily Watson. Das in 3D gedrehten Epos’ basiert auf Tatsachen und zeigt den Überlebenskampf einer Gruppe von Gipfelstürmern in einem Unwetter.

Mit besonderer Spannung erwartet werden die Wettbewerbsbeiträge „Rabin, the Last Day“ über die Ermordung des israelischen Ministerpräsidenten Itzchak Rabin, eine israelisch-französische Ko-Produktion von Amos Gitai, das Transsexuellen-Drama „The Danish Girl“ des britischen Regisseurs Tom Hooper, mit „Oscar“-Gewinner Eddie Redmayne („Die Entdeckung der Unendlichkeit“) in der Hauptrolle, und „Beasts of No Nation“ vom US-Amerikaner Cary Fukunaga, der das Schicksal von Kindersoldaten schildert. Interessant: All diese Filme haben ihre Inspiration von realen Ereignissen

Und die Promi-Parade? Angeblich wird sie in disem Jahr so dicht sein wie nie zuvor. Auch hier gilt: Abwarten! Johnny Depp, Jake Gyllenhaal und Benedict Cumberbatch sind angekündigt. Diane Kruger („Unknown Identity“) ist schon da. Sie gehört zur Internationalen Jury. Deren Präsident ist der mexikanische Regisseur Alfonso Cuarón. Er hatte mit „Gravity“, dem Eröffnungsfilm des Festivals vor zwei Jahren einen weltweiten Erfolg, konnte auch kräftig bei der „Oscar“-Verleihung abräumen. Das gelang auch Alejandro González Iñárritu, der im Vorjahr die Mostra mit „Birdman“ eröffnet hatte. Die kommerzielle und künstlerische Durchschlagskraft beider Filme beweist: das Internationale Filmfestival von Venedig gehört weiterhin zu wichtigsten weltweit. Da mag Toronto noch so viel trommeln, Hollywood-Power aufbieten und zweifellos als Orientierung für Verleiher und Kinobetreiber in Nordamerika von Bedeutung sein. Wer sich für Filmkunst interessiert, schaut nach Venedig. Zumal hier auch viele Filme zu sehen sind, die anschließend in Toronto nachgespielt werden. Freilich weiß man auch in der Lagunenstadt: Es wird von Jahr zu Jahr schwieriger, große Filmfestivals auszurichten. Der Grund hat nichts mit Kunst und auch nichts mit den Angeboten der Produzenten zu tun. Nur mit Geld. Es ist heutzutage derart teuer geworden, einen Film auf einem Festival zu zeigen, dass sich die Ausgaben oft nicht lohnen. Werbung im Internet ist billiger und – mit blick auf die Kinokassen – wohl auch effektiver. Ereignisse wie das von Venedig, in den 1960er Jahren „demokratisiert“ und für die breite Masse geöffnet, werden wieder zu exklusiven Angelegenheiten. Im ersten Moment wirkt das erschreckend. Doch denkt man drüber nach, sieht’s anders aus: Exklusivität, so sie sich halten kann, kommt am Ende immer auch dem Profit entgegen. Derzeit ist Durchhalten angesagt. Doch das diesjährige Festival von Venedig sagt’s deutlich: Es kommen wieder bessere Zeiten. Hier spürt man sie schon.

Peter Claus  01-09-15