Das gab’s im deutschsprachigen Film schon lange nicht mehr: Man geht aus dem Kino und kriegt den Namen einer bis dato weitgehend unbekannten Schauspielerin nicht mehr aus dem Kopf. Der Name lautet Victoria Schulz.
In einem sehr bemerkenswerten Film war sie bereits zu sehen, in „Von jetzt an kein zurück“. Wer sie darin gesehen hat, war schon sehr verblüfft. „Dora“ setzt noch eins drauf. Victoria Schulz verkörpert eine gerade mal 18-Jährige, die sich ihre sexuelle Selbständigkeit auf sehr eigene, eigenwillige, Weise erobert. Die Umwelt hat damit ein ziemliches Problem. Denn die junge Frau ist geistig zurückgeblieben, wird allgemein als Kind wahrgenommen. Und der Mann, den sie will, ist deutlich älter.
Behinderung und Sex: das dem Film zugrunde liegende Theaterstück von Lukas Bärfuss gibt eine Menge Diskussionsstoff. Den die schweizer Regisseurin mit einer recht gewagten Gestaltung noch anheizt. Denn hier wird in schöner Selbstverständlichkeit an Schamgrenzen gerüttelt, dass man das Kino erstmal auch ein wenig verstört verlässt.
Neben Victoria Schulz zeigt Jenny Schilly erneut ihre Klasse (in der Rolle von Doras Mutter). Sehr nuanciert. Lars Eidinger spielt den Mann an Doras Seite. Eidinger, brillant gerade als „Richard III.“ in Berlin an der Schaubühne, ist gewöhnungsbedürftig. In zu vielen Szenen stellt sich der Eindruck ein, er wäre bei den Dreharbeiten zu stark auf Wirkung bedacht gewesen, drückt gelegentlich zu sehr auf die Tube. Im Verlauf des Geschehens gewöhnt man sich aber an ihn. Da hat Victoria Schulz allerdings auch schon längst alle Aufmerksamkeit auf sich konzentriert. Ohne der Figur Dora je zu denunzieren, zeigt sie das Mädchen als Behinderte – und als großen Charakter. Man ist fasziniert.
Kann jemand, der geistig behindert ist, seine Sexualität wirklich selbst bestimmen? – Ja, die Frage schwebt über allem. Gut, dass keine hübsch verpackte Antwort darauf gegeben wird. Leider hat Stina Werenfels einen Hang zu überzogener Symbolik. Evas Apfel etwa wird überdeutlich ins Spiel gebracht. Victoria Schulz lässt einen jedoch gern darüber hinweg sehen. Die Klasse dieser Schauspielerin drückt dem Film einen einmaligen Stempel auf.
Peter Claus
Bilder: Alamode (Filmagentinnen)
Dora oder die sexuellen Neurosen unserer Eltern, von Stina Werenfels (Schweiz 2015)
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