CINDERELLA

Wohl jeder kennt sie: Aschenputtel. Sie ist wohl das schönste und auch berühmteste arme Mädchen der europäischen Märchenwelt. Und wohl auch dies stimmt: jeder liebt sie. Kaum vorstellbar, dass irgendjemand auf die Idee kommt, ihrer bösen Stiefmutter beizustehen und die harsche Frau in dem Wunsch zu bestärken, das Mädchen in die Knie zu zwingen.

Überraschung: Genau dabei werden sich garantiert viele Erwachsene erwischen, wenn sie sich jetzt die neueste US-amerikanische Kinoversion des Klassikers ansehen: Da sitzt man doch plötzlich da und wünscht dem von Cate Blanchett grandios abgefeimt verkörperten Drachen in Frauengestalt Erfolg. Hat der britische Schauspielstar Kenneth Branagh, der bisher als Regisseur vor allem mit Shakespeare-CINDERELLAAdaptionen wie „Viel Lärm um Nichts“ und „Hamlet“ reüssierte, die Geschichte also völlig auf den Kopf gestellt und erzählt eine ganz andere Aschenputtel-Story, zugeschnitten allein für Zuschauer älterer Semester? Keineswegs. Er erzählt auch für die, deren Kindheit schon lange zurück liegt, bedient aber erst einmal und vor allem, und das brillant, kindliche Bedürfnisse.

Man erkennt das Märchen, trotz einiger kleiner Veränderungen, sofort wieder: Verwaistes Mädchen wird von der Stiefmutter und deren zwei bösen Töchtern aus erster Ehe gequält und geknechtet. Ella (ab dem Jugendalter von der anmutigen Lily James verkörpert) wird von dem Trio infernale als Aschenputtel (Englisch: Cinderella) verspottet und gewissermaßen als Haussklavin gehalten. Mit Hilfe einer guten Fee (Helena Bonham Carter) kann Ella das Herz des Prinzen (Richard Madden) erobern. Und auf einem Ball, da der Blaublütler sich eine Braut aussuchen soll, trifft sie ihn wieder. Niemand erkennt in ihr das Aschenputtel. Er aber erkennt die Liebe seines Lebens. Es wird ein rauschendes Fest. Doch der wohltätige Zauber samt Luxusrobe, Designerfrisur und Schuhen aus Glas hält nur bis Mitternacht. Danach ist das Mädchen wieder zum Schattendasein in Sack und Asche verurteilt. Doch der Prinz sucht die Frau seines Herzens. Und wir wissen ja, wie es ausgeht. Wobei: Der Film erlaubt sich eine kleine Story-Abweichung mit großer Wirkung. Da fürchtet man tatsächlich kurz vorm heftig herbei gesehnten Happy End, dieses Mal könnte die Erzählung ganz anders enden und Aschenputtel dumm in den Schornstein gucken…

Die Adaption von Kenneth Branagh ist temperamentvoll, verzichtet erfreulicherweise jedoch auf die bei solchen Stoffen in Hollywood üblichen Popsongs. Eine Wohltat! Und es nervt auch keine übermäßige Flut an digitalen Effekten. Die wenigen, die es gibt, sind wohl dosiert, erhöhen den Spaß, decken ihn nicht, wie jüngst bei „Into the Woods“, zu. Und, klar: die Hauptfigur ist einfach hinreißend. Lily CINDERELLAJames darf viel unschuldigen Charme einsetzen, dazu Herzlichkeit und Verstand. Ihr Aschenputtel ist gütig, aufrichtig und wirklich ohne jede Hinterlist, doch sie ist kein doofes Unschuldslamm, sondern erweist sich schließlich als eine charakterstarke junge Frau, die ihr Glück sucht und, als sie sie ihm nahe kommt, alles unternimmt, es für sich zu gewinnen. Lily James, bekannt geworden durch den TV-Serien-Hit „Downtown Abbey“, strahlt eine scheinbar aus ihrem Inneren kommende Schönheit aus, die nichts Puppenhaftes hat, sondern kraftvoll, ja, handfest, wirkt. Schön, dass der von Richard Madden verkörperte Prinz ebenfalls nicht auf den eindimensionalen Typ des schnieken Beaus reduziert wird. Auch er überzeugt als Mensch, der das Denken vor die Tat setzt, dabei gern auch auf den warnenden oder lockenden Schlag tief aus dem Unbewussten hörend. Die zwei sind einfach ein hinreißendes Paar, man fiebert heftig mit, dass sie bitte, bitte zueinander finden. Neben ihnen entfaltet Cate Blanchett in der Rolle der bösen Stiefmutter all ihr Können. Auch sie darf dabei Vielschichtigkeit anbieten. Bei ihr wird die Frau nicht allein als Teufel im Rock gezeigt, sondern auch als Opfer der Zeit und der Gesellschaft begreifbar. Und diese Gesellschaft, schon landet Aschenputtel in der Gegenwart, ist an nichts als Geld interessiert.

Freunde des Animationsfilms werden schnell sehen, dass sich Kenneth Branagh optisch an dem Walt-Disney-Zeichentrickhit aus dem Jahr 1950 orientiert hat. Doch wichtiger als alles Glitzern ist die Doppelbödigkeit der Erzählung. Kinder können sich ganz naiv ihrem Zauber hingeben, Erwachsene haben dazu ihr Vergnügen an den augenzwinkernden Anspielungen auf die schnöde Welt jenseits aller Märchenseligkeit. Da landet Aschenputtel mitten unter uns.

Peter Claus

Cinderella, von Kenneth Branagh (USA 2015)

Bilder: Walt Disney