Das Autoren- und Regie-Duo Richard Glatzer und Wash Westmoreland, auch privat ein Paar, ist hierzulande trotz eines Berlinale-Erfolgs mit ihrem Debut „Fluffer“ (2001) weitgehend unbekannt. Was schade ist, haben die Beiden doch – stets fernab der Filmindustrie-Imperien – einige höchst bemerkenswerte Arbeiten vorgelegt, zuletzt „ The Last of Robin Hood“ mit Kevin Kline in der Rolle des legendären Hollywood-Stars Errol Flynn. Jetzt, endlich, wird das breite Publikum auf sie aufmerksam. Der (berechtigte!) „Oscar“ für Hauptdarstellerin Julianne Moore dürfte diesbezüglich hilfreich sein.
Julianne Moore, spezialisiert auf komplizierte Charaktere, verkörpert die Linguistikprofessorin Dr. Alice Howland. Alice ist erfolgreich im Beruf und augenscheinlich glücklich in ihrer Familie mit Mann (Alec Baldwin) und drei erwaschenen Kindern. Ein Geburtstagsfest jedenfalls lässt zunächst darauf schließen. Heiterkeit dominiert. Doch schon hier, am Beginn der Filmerzählung, verweisen die Regisseure Richard Glatzer und Wash Westmoreland subtil auf die Zerbrechlichkeit allen Glück: ein Lächeln hier, ein strenger Blick da und mal ein kurzes Schweigen lassen ahnen, dass auch bei den Howlands nicht alles so harmonisch und konfliktfrei ist, wie es auf den ersten Blick den Anschein hat. Bald wird klar, dass insbesondere die Beziehung von Mutter Alice und Tochter Lydia (Kristen Stewart) angeknackst ist. Lydia hält konsequent an ihrem Traum von der Schauspielkarriere fest, auch wenn sich bisher nicht abzeichnet, dass die große Erfüllung wirklich greifbar ist. Was die Mutter nicht begreift, weshalb sie die Tochter immer wieder bedrängt, ihr Leben in andere Bahnen zu steuern. Doch Lydia bleibt stur. Von gegenseitigem Verstehen kann nicht die Rede sein. Schon das bietet reichlich Stoff für einen packenden Spielfilm. Doch es kommt noch heftiger. Es stellt sich nämlich heraus, dass Alice an Alzheimer leidet, noch dazu an einer gentechnisch bedingten Form der Krankheit, die vererbbar ist. Ihre Kinder sind also akut bedroht.
Eins darf man nicht vergessen: „Still Alice“ will unterhalten. Das ist ein Film, der das Publikum mit emotionalen Höhen und Tiefen fesseln möchte. Da gibt es sogar witzige Momente, etwa wenn Alice staunt, dass sie beim Schmökern des Romans „Moby Dick“ unentwegt das Gefühl habe, wieder und wieder die selbe Stelle zu lesen. Doch die Spiegelung von Leidvollem überwiegt. Das beginnt mit „Kleinigkeiten“, wie vergessenen Wörtern, führt über den Schrecken, im eigenen Zuhause nicht mehr das Bad zu finden, bis hin zur Frage, ob Alice ihrem Leben nicht durch Suizid ein Ende bereiten sollte. Filmisch wird all dies sehr leise gezeigt, in manchmal fast qualvoller Ruhe. Große dramatische Effekte bleiben weitgehend aus. Genau deshalb entwickelt der Film eine Wirkung, der sich wohl kein Zuschauer entziehen kann. Man wird wirklich zutiefst ins Mark getroffen, wenn da etwa die Frage gestellt wird, ob Krebs nicht besser sei als Alzheimer, gäbe es da doch immerhin Heilungschancen, während jemand wie Alice allenfalls ein paar wenige Jahre bleiben. Man lehnt den Vergleich instinktiv als unzulässig ab, lässt sich doch die eine Krankheit nicht mit der anderen vergleichen, versteht ihn aber zugleich. Momente wie dieser markieren die Klasse des Films. Hier wird nicht billig auf die Tränendrüsen gedrückt, hier wird – mit den Mitteln des Entertainments – nachgedacht.
Das Autoren- und Regie-Duo hat den Film spürbar mit außerordentlichem Engagement jenseits aller Routine realisiert. Vielfach wird die Vermutung geäußert, dies habe damit zu tun, dass Richard Glatzer an ALS erkrankt ist und schon vor Beginn der Dreharbeiten massive körperliche Behinderungen hatte. Selbst von Leiden geprägt, haben die Zwei natürlich ein Verständnis dafür jenseits von sentimentaler Verlogenheit. Die hat denn im Film, abseits einiger Ausrutscher der Musik, auch keinerlei Chance. Was natürlich auch der Vorlage zu danken ist, dem 2007 erschienenen Romandebüt der Neurowissenschaftlerin Lisa Genova, auf dessen Basis das Regie-Duo behutsam das kluge Drehbuch geschrieben hat. Besondere Bedeutung kommt auch der Kameraführung des Franzosen Denis Lenoir zu. Seine Arbeit sorgt in hohem Maß dafür, dass man der Protagonistin ungemein nahe kommt. So schaut er beispielsweise bei einem medizinischen Check ausschließlich auf Alice, offenbart später mit gleichsam ausgefransten Bildern, wie ihr Blick auf die Realität verschwimmt, zeigt ihre Isolation, wenn er sie gleich einem scheuen Tier allein auf einem Sofa beobachtet. Lenoir streichelt das schöne Gesicht Julianne Moores gleichsam mit der Kamera. Ihr Film ist dies denn auch, der Film von Julianne Moore. Ist ihre Alice am Anfang stark und klug und souverän, so verliert sie sich mehr und mehr im Vergessen. Moore zeigt den Wandel beängstigend verhalten. Es ist einem, als lebe und durchleide sie das, was sie zeigt, tatsächlich. Was natürlich nicht stimmt. Sie spielt. Dies jedoch mit einer Klasse, die selbst abgebrühte Naturen zu Tränen rührt. Man staunt, wie sie es schafft, den Glanz ihrer Augen zu trüben, das innere Verfallen zu spiegeln. Neben Julianne Moores Seite fällt Kristen Stewart im Part der jüngsten Tochter auf. Die „Twilight“-Darstellerin zeigt, dass sie reife Charakterstudien gestalten kann. Ihr gehören im Zusammenspiel mit Julianne Moore die stärksten Momente des Dramas. Was wichtig ist. Denn als Zuschauer braucht man eine Identifikationsfigur. Da bietet sich die der Tochter an, weil sie nicht glatt und problemlos mit dem Schrecken umgehen kann, sondern erstmal nur geschockt ist, wie wir es als Betrachter auch sind, voller Angst, voller Verzagtheit. Aber sie ist es auch, die – in einer ganz kleinen, von den beiden Darstellerinnen höchst subtil gespielten Szene – den Schlüssel zum Verständnis des Films und zum Umgang mit Alzheimer in der Wirklichkeit zeigt. „Liebe“ ist das entscheidende Stichwort. Selten wird es im Kino mit einer Bedeutung versehen, wie hier. Und selten denkt man nach einem Filmbesuch derart intensiv darüber nach.
Peter Claus
Still Alice, von Richard Glatzer und Wash Westmoreland (USA 2015)
Bilder: polyband Medien GmbH (Sony Pictures)
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