Xavier Dolan ist ein Wunderkind. Immer noch. Mit 25 Jahren. Schaut man sich um, wie wenige in diesem Alter überhaupt „schon“ Kino-Filme inszenieren, und dies ist in seinem Fall bereits der fünfte, dann verwendet man das Etikett „Wunderkind“ gern.
Wie bei allen Wunderkindern, so löst der Status auch bei Xavier Dolan einen gewissen Gruseleffekt aus. So rastlos, so schnell, so tief in die Untiefen des Menschlichen dringend – also da kann doch irgendetwas an dem Kerl nicht echt sein. Vielleicht ist dem so. Vielleicht auch nicht. Lassen wir das Spekulieren. Dolans Filme sind allesamt sehenswert, auch dieser nun. Entfesselt wird ein Albtraum. Und wie bei jedem Albtraum erwacht man am Ende aus den Untiefen des Unbewussten und ist glücklich darüber, dass man aufgewacht ist, aber auch darüber, dass man durch den Traum waten durfte.
Dieser filmische Alptraum hat ein ungewöhnliches Projektionsformat, erinnernd an frühe Filmzeiten. Das Bild ist quadratisch. Es hat einen Rahmen von 1:1. Wenn dieser Rahmen im Verlauf der Erzählung dann zwei Mal aufreißt, geradezu explodiert, dann erfährt das Publikum tatsächlich eine Explosion der Sinne. Das ist eine fast körperlich spürbare Erfahrung. Und um körperliche Erfahrung geht es auch in der erzählten Geschichte. In deren Mittelpunkt steht der gerade mal 15-jährige Steve. Der Junge ist ein Satansbraten. Nach einem von ihm verübten Brandanschlag muss seine Mutter Diane ihr Leben ganz auf ihn einstellen. Was hart ist. Denn selbst ihr gegenüber schreckt er nicht vor psychischer und physischer Gewalt zurück. Das ist kaum auszuhalten. Dabei rast Steve von Extrem, zu Extrem: eben ein Scheusal, mutet er im nächsten Moment sanftmütig und schutzbedürftig und klein an. Augenblicke der Angst stehen unmittelbar neben solchen von enthemmter Lebensfreude. Doch wohin soll das Chaos der Gefühle führen? Als schließlich die Nachbarin Kyla zu dem Duo stößt, wird es völlig „irrsinnig“…
Xavier Dolan schlägt einen Haken nach dem anderen, inhaltlich und formal. Man staunt, man zittert mit den Figuren mit, man möchte Fersengeld geben und man möchte Steve und die anderen umarmen und mit ihnen ziehen. Verblüffend!
Kenner von Dolans Werk werden sofort an seinen Debütfilm „I killed my Mother“ denken. Da hat er schon einmal eine vertrackte Mutter-Sohn-Beziehung bis in die letzten düsteren Winkel ausgeleuchtet. Und man hofft, dass all dies nicht allzu autobiographisch eingefärbt ist. Angeblich aber hat Dolan eigenes Erleben verarbeitet. Rührt daher die verblüffende Authentizität? Und wieder verpasst einem das Wunderkind eine Gänsehaut.
Peter Claus
Mommy, von Xavier Dolan (Kanada 2014)
Bilder: Weltkino Filmverleih
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