Der Franzose Jean-Pierre Jeunet wurde er 2001 mit dem märchenhaften Montmartre-Melodram „Die fabelhafte Welt der Amélie“ weltberühmt. Sein neuer Film ist seitdem erst der dritte. Jeunet lässt sich stets viel Zeit. Er tüftelt gern. Was man den Filmen in der Regel zwar anmerkt, was einen jedoch nicht stört. Nun zeigt sich: Es gibt keine Regel ohne Ausnahme.
Wie vor mehr als einem Dutzend Jahren setzt Jeunet auf eine bonbonsüße Melange aus Drama, Phantasie und Slapstick. War’s damals eine junge Frau, ist es nun ein zehnjähriger Junge, der zum Träumen einlädt. Manches, etwa ein depressiver sprechender Hund, erinnert an Amélie. Und, ja, die 3D-Technik lässt die Poesie noch üppiger wuchern. Dennoch stößt es einem manchmal etwas bitter auf, dass die erzählte Geschichte doch arg sentimental ist und allenfalls das Etikett „nett“ verdient. Diese Geschichte spielt in den USA, im Bundesstaat Montana, mitten im Nirgendwo, wie es im Film einmal heißt. Mobiltelefon und andere Segnungen der Neuzeit machen klar, dass der Held der Erzählung, der zehnjährige T. S. Spivet (Kyle Catlett), in der Gegenwart lebt. Doch das hübsche roter Farmhaus der Spivets mit der weiß angemalten Veranda und sämtliche Schausplätze muten derart vorvorgestrig verspielt an, dass die Szenerie allenfalls als schrullige Parodie auf den „american way of life“ durchgehen kann. Die Spivets selbst wirken auch nicht gerade, als seien sie von dieser Welt. Der Vater (Callum Keith Rennie), mit Cowboylook und lastendem Schweigen ausgestattet, tritt auf, als wäre er der letzte Überlebende jener einst berühmten Zigaretten-Werbung, die den blauen Dunst als Inbegriff der Freiheit verkaufte. Die Mutter (Helena Bonham Carter), die voller Leidenschaft das Leben der Insekten erforscht, ist so huschig, dass man sich nicht wunderte, wenn sie plötzlich selbst davon surrte. Und die ältere Schwester (Niam Wilson) geht einem mit ihrem überlebensgroßen Traum von der Schauspielkarriere einfach nur auf die Nerven.
Alles sieht sich hübsch an, doch immer auch so, dass einem das Gemachte, das Ausgetüftelte, den Blick ein wenig verstellt. Ins Herz der Geschichte oder gar des Helden guckt man deshalb nie. Immerhin hat der schmächtige T. S. einiges zu bieten. Er nämlich ist hoch begabt, tüftelt, knobelt, experimentiert mit allem und jedem, liegt auch mal daneben, was seinen Zwillingsbruder das Leben kostet, und kommt schließlich mit einer Erfindung dem seit Jahrhunderten gesuchten Perpetuum mobile verblüffend nahe. Damit gewinnt der Knirps einen renommierten Preis der Smithsonian Institution in Washington. Wohin der kleine Kerl sich also aufmacht, um die Auszeichnung entgegen zu nehmen und die Dankesrede zu halten. Dazu reist er als blinder Passagier mit einem Güterzug. Was natürlich einen guten Grund hat: somit gibt es reichlich Gelegenheit für seltsam-schöne Begegnungen und für Dramatik. Denn die Angehörigen von T. S. haben von nichts eine Ahnung und ängstigen sich fürchterlich um ihren Sprössling. Richtig in Fahrt kommt der Film nach mehr als einer Stunde, wenn der Junge endlich in Washington gelandet ist. Dort begegnet er nämlich einer geschäftstüchtigen Vertreterin des Smithsonian, Miss Jibsen. Judy Davis verkörpert die profitgierige Lady mit derart viel herzerfrischender Bösartigkeit, dass es eine wahre Freude ist. Leider sind ihr nur wenige Auftritte vergönnt, ehe die zu erwartende Familienzusammenführung für Herz-Schmerz-Bibbern aus vollen Rohren sorgt.
Lohnt der Einsatz der 3D-Technik? Durchaus. Da gibt’s viele tolle Effekte. Lassos schießen zum Beispiel im Dunkel des Kinos auf einen zu, und man greift sich unweigerlich ein wenig erschrocken an den Hals. Eine automatische Kamera umkreist die Beteiligten einer TV-Talk-Show, und es sieht aus, als greife da ein Killer-Insekt nach dem menschlichen Geist. Der kleine T. S., mit Anzug, Fliege und viel Gel im Haar auf erwachsen getrimmt, steht an einem Rednerpult und, da er sich an den schlimmsten Schrecken seines bisherigen Lebens erinnert, kullert ihm eine Träne aus einem Augenwinkel, die so mächtig anmutet, als könne sie alle Welt unter Wasser setzen. Tricktechnisch nahezu perfekt gestaltete Momente wie diese machen die Romanverfilmung unvergesslich.
Und schauspielerisch? T. S.-Interpret Kyle Catlett wird als kleiner Knabe in Erinnerung bleiben, der sehr zart wirkt, dabei aber durch die Kraft des Geistes über sich hinaus wächst. Ob der Junge zu einem wirklich ausdruckstarken Schauspieler heranreifen kann, lässt sich nicht sagen. Glanzlichter setzen Helena Bonham Carter als weltfremde Lady und Judy Davis als zickig-hinterhältiger Institutsdrachen Jibsen. Jeunet hat nun mal ein glückliches Händchen, wenn es darum geht, Frauen ins rechte Licht zu setzen. Audrey Tautou wurde als „Amélie“ zum Weltstar. – Sicher ist es für Jeunet nicht einfach, mit dem Fluch des „Amélie“-Ruhms zurecht zu kommen. Doch er fordert mit seinem neuen Film den Vergleich geradezu heraus. Es fällt auf, dass es dieses Mal mehr melancholische Momente gibt, mehr Trauriges. Doch es fällt genauso auf, dass der einfallsreiche Regisseur seinem Hang zum Süßlichen erheblich zu stark nachgegeben hat.
Peter Claus
Die Karte meiner Träume, von Jean-Pierre Jeunet (Frankreich/ Kanada 2013)
Bilder: DCM
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