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Anfang der 1990er Jahre wurde der inzwischen überwiegend in Berlin lebende Schweizer Regisseur Marcel Gisler mit dem Spielfilm „Die blaue Stunde“ bekannt, einer noch heute sehenswerten Studie um das Leben junger Leute in der deutschen Hauptstadt, verbunden mit der sensiblen Erkundung eines Alltags, der wesentlich von gleichgeschlechtlicher Liebe geprägt wird. Darum geht es auch in dieser Tragikomödie, aber nicht allein. Fans von „Die blaue Stunde“ dürften mit hohen Erwartungen ins Kino gehen. Sie werden nicht enttäuscht.

Feinsinnig, mit exzellentem Gespür für einen packenden Erzählrhythmus und großartiger Schauspielerführung erzählt Gisler in seinem Film, an dessen Drehbuch er mitgearbeitet hat und in das autobiographische Momente eingeflossen sind, vor allem von den späten Tagen der Hauptfigur, von der Schwierigkeit, Familienbande immer als angenehm zu empfinden, von der Suche einiger Menschen nach der eigenen Identität.

Rosie (Sibylle Brunner), verwitwet, ist eine alte Frau jenseits der guten Jahre. Das kleine Schweizer Heimatdorf ist ihr Paradies. Doch die Kräfte lassen nach. Dazu kommt die Angst vor dem Alter. Die treibt Rosie in den Suff. Und dann gibt es auch eine große Lebenslüge, die schwer auf ihr lastet. Ihr in Berlin recht erfolgreich als Schriftsteller lebender Sohn Lorenz (Fabian Krüger) kommt zu Besuch und weiß nicht, was tun. Auch seine in der Nähe lebende Schwester (Judith Hofmann), als Ehefrau und Mutter schwer überfordert, ist bei allem liebevollen Bemühen keine Hilfe. Doch erst einmal sieht es so aus, als könne Rosie trotz kleinerer Unfälle und erster Anzeichen von Demenz weiterhin in ihrer Bleibe zurechtkommen. Ein freundlicher junger Mann rosie_320(Sebastian Ledesma) aus dem Dorf hilft ihr. Allerdings sorgt das Knistern von Erotik, das Keimen von Liebe, zwischen ihm und Lorenz für einige Probleme. Denn Lorenz, der so selbstbewusst auftritt, ist sich seiner Selbst, seinem Vermögen, für andere Verantwortung zu übernehmen, absolut nicht sicher.

Marcel Gisler erzählt mit viel Gefühl, ohne je auch nur in die Nähe des Sentimentalen zu geraten, und mit viel Komik, die nie schenkelklopfend-grob wirkt. Und er vermeidet jegliches Pathos. Die Erzählung mutet ganz leichfüßig an, geradezu schwebend, selbst wenn da Schwerstes verhandelt wird. Souverän führt er die verschiedenen Handlungsstränge zusammen, ohne dabei je die Lust am Spielerischen aufzugeben. Das hat im deutschsprachigen Kino Seltenheitswert! Verblüffend ist der Umgang mit Musik: Chöre aus Verdi-Opern und Klaviersonaten illustrieren die überwiegend sehr sanft anmutenden Bilder. Die Schönheit der Schweizer Landschaft wird intensiv gespiegelt, doch Postkartenansichten sucht man zum Glück vergebens. Die Schauspieler agieren mit präzisem Timing, halten Tragik und Komik in schöner Balance. Allen voran ist Sibylle Brunner in der Titelrolle zu nennen. Sie gibt Rosie eine enorme Palette an Nuancen, ist mal ordinär und laut, dann gar regelrecht widerwärtig, immer wieder aber auch hilfsbedürftig, fast kindlich-naiv, ganz zerbrechlich. Eine Bravourleistung! Fabian Krüger besteht glänzend neben ihr, zeigt einen starken Mann, der lernt, sich den eigenen Schwächen zu stellen, kann in seiner Körpersprache die innere Unausgewogenheit von Lorenz tatsächlich sichtbar machen. Judith Hofmann schafft es, die von ihr dargestellte „Frau am Rande des Nervenzusammenbruchs“ nie zur Karikatur werden zu lassen, ihr bei allem Schroffen eine schöne Wärme zu schenken. Sebastian Ledesma fügt sich großartig in das Ensemble ein, wenn er dem lebenshungrigen, zunächst etwa verträumt anmutenden jungen Mann im Verlauf der Geschichte eine große Stärke gibt, ihn zum handfesten Realisten reifen lässt.

Am Ende: kein rosarotes Happy End. Und doch verlässt man das Kino mit einem regelrechten Glücksgefühl und möchte den Film sofort ein zweites Mal sehen. – In Deutschland soll der Film in einer synchronisierten und in der untertitelten Originalfassung zu sehen sein. Zwar synchronisierten sich alle Schauspieler selbst ins Hochdeutsche, was vor allzu Schlimmen bewahren dürfte. Doch ist das Original unbedingt vorzuziehen, denn keine noch so gute Synchronisation kann den feinen Ton, der sich über die Originalsprache ganz unabhängig von Verstehen oder Nicht-Verstehen mitteilt, erhalten. Da dies auch kein von einer Dialogflut dominierter Spielfilm ist, sondern einer, der erfreulich viel über die Bilder erzählt, ist unbedingt für das Ansehen der Originalversion zu plädieren!

Peter Claus

Rosie, von Marcel Gisler (Schweiz 2013)

Bilder: Kool