Publikumspreis im letzten August in Locarno, gleich zwei Auszeichnungen beim Festival in Angoulême und gar eine „Oscar“-Nominierung – diese Komödie hat schon einigen Erfolg aufzuweisen. Dabei sind viele sicherlich erst einmal skeptisch, wenn sie hören oder lesen, dass es mal wieder um eine Behinderung geht. Doch schon unmittelbar nach Beginn des Films verfliegt alle Skepsis. Die Hauptdarstellerin Gabrielle Marion-Rivard heißt nicht zufällig auch so wie die Titelfigur. Auch sie hat das so genannte Williams-Beuren-Syndrom, eine Chromosomenveränderung, die sowohl körperliche Beeinträchtigungen wie auch geistige Behinderungen verursacht. Bei Filmfigur Gabrielle ist ein Merkmal von Menschen mit diesem Syndrom besonders ausgeprägt: sie hat ein extrem gut ausgeprägtes musikalisches Empfinden und liebt Musik über alles. In einem Chor kann sie das ausleben und genießen. Bei Proben lernt sie Martin (Alexandre Landry) kennen. Die Beiden verlieben sich ineinander. Doch damit beginnen keine rosigen, sondern schwierige Zeiten. Da nicht selbständig genug, können die Zwei nicht so ohne weiteres zusammen leben. Martins Mutter ist sogar derart ängstlich, dass sie die Beiden auseinanderbringen will. Gabrielles Schwester Sophie allerdings geht lockerer – und damit menschlicher – mit dem Paar um. Und Gabrielle lässt sowieso nicht locker. Sie liebt den Mann und will mit ihm leben. Und sie bietet all ihre Kraft auf, um sich durchzusetzen.
Regisseurin und Drehbuchautorin Louise Archambault erzählt die Geschichte mit so vielen überraschenden Einfällen, dass es einem fast die Sprache verschlägt. Jede Wendung, die man erwartet, tritt nicht ein, jeden Sturm der Sentimentalität, der droht, verjagen Buch, Inszenierung und das Spiel der Akteure. Exzellent ist zudem der Umgang mit der Musik, der eine Schlüsselrolle zukommt: Nix da mit kitschigen Akkorden. Besonders gelungen sind jene Momente, da man ob plötzlicher Stille zunächst glatt glaubt, im Kino sei der Ton ausgefallen. Doch Archambault weiß, wie heutzutage selten eine Regisseurin oder ein Regisseur, um die Wichtigkeit von Pausen. Damit setzt sie Akzente, die notwendig sind, damit das Publikum ganz nah an die Figuren herankommen kann. Herrlich auch: Es gibt ein gutes Ende, aber es gibt kein Happy End.
Hervorgehoben werden muss die Arbeit von Kamermann Mathieu Laverdière. Er hat sehr oft sozusagen an der Seite von Gabrielle oder über ihre Schulter hinweg gefilmt. Das trägt enorm dazu bei, ihre Sicht auf das Geschehen zu erkennen, und sich in ihre Gefühle hineinzuversetzen. Und dann ist da Gabrielle Marion-Rivard selbst, ein temperamentgeladener Vulkan, ein Kobold, eine Selbstdarstellerin, die durch die kluge Führung der Regisseurin zu einer wirklichen Charakterstudie findet. Sie setzt das i-Tüpfelchen und macht den Film zum Ereignis.
Peter Claus
Gabrielle – (K)eine ganz normale Liebe, von Louise Archambault (Kanada 2013)
Bilder: Alamode
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