Kino made in Switzerland? Da haben viele sofort eine „Heidi“-Assoziation, denken an Luigi Comencinis vor sechs Jahrzehnten herausgekommene Romanadaption. Im Zusammenhang mit diesem Film eine interessante Assoziation. Denn hier haben wir es beinahe mit so etwas wie einer Anti-Heidi-Geschichte zu tun. In deren Zentrum steht die 14-jährige Wanda (Maria-Victoria Dragus). Mit Eltern und Geschwistern zieht sie aus Deutschland in die Schweiz. Zu den Belastungen, die ein solcher Umzug zwangsläufig mit sich bringt, kommt noch die, dass der Vater (Wolfram Koch) eine Affäre mit einer anderen Frau hatte. Das ist (angeblich, wirklich?) vorbei. Der Familienfriede geht den Erwachsenen scheinbar über alles. Doch Wanda empfindet, ohne dass sie dies zunächst ausdrücken kann, die Verlogenheit als Belastung. In der neuen Schule kann sie keine Anerkennung erringen, der Draht zur verstörten Mutter (Nicolette Krebitz) ist dünn, erste sexuelle Versuche enden kläglich. All das bringt Wanda dazu, handeln zu wollen, um so etwas wie Harmonie, sommerliche Leichtigkeit, nachhause zu holen. Doch es erscheint fragwürdig, ob das gelingen kann.
Drehbuchmitautorin und Regisseurin Friederike Jehn präsentiert hiermit nach „Weitertanzen“ (2008) ihren zweiten abendfüllenden Spielfilm. Mit Courage und angenehmer Ernsthaftigkeit entwickelt sie das Porträt einer Pubertierenden, die sich und die Welt nicht mehr versteht, die zunächst wie gelähmt wirkt, dann aber versucht, ihre Vorstellungen von einem „guten Leben“ umzusetzen. Klischees werden dabei vermieden, Kitsch hat keine Chance. Die zur Zeit der Dreharbeiten 16-, 17-jährige Hauptdarstellerin Maria-Victoria Dragus (bekannt geworden durch Hanekes „Das weiße Band“) wurde von der Regisseurin zu einer packenden Leistung geführt. Im Zusammenspiel mit den wie nahezu stets großartig agierenden Krebitz und Koch gelingt es der jungen Schauspielerin, ohne vordergründige Effektmalerei die Pein des Mädchens, das irgendwann weder ein noch aus weiß, nuanciert zu spiegeln. Auch die Momente überschwänglichen Hoffens zeichnet sie mit vielen schönen Farben. Ihre Darstellung ist das A und O des Coming-of-Age-Dramas. Selbst, wer schon Jahre älter ist, wird dazu gebracht, die Empfindungen der Halbwüchsigen zu teilen. Hut ab!
Ein Teil der Filmkritik in der Schweiz reagierte dennoch verschnupft. Dem Film wird etwa angekreidet, dass er dem Thema „Fremdsein in der Schweiz“ zu wenig Aufmerksamkeit schenke. Genau das aber ist gut. Denn bei einer Überbetonung dieser Problematik, die im Film durchaus reflektiert wird, wäre die Gefahr, in oberflächliche „Heidi“-Muster zu verfallen, viel zu groß und die Verallgemeinerbarkeit der erzählten Geschichte möglicherweise zu klein geraten.
Die Regisseurin schlägt einen recht kühlen Ton an. Dialoge gibt es nur, wenn unbedingt notwendig. Wandas Verstört-Sein und das ihrer beiden Geschwister sowie die aufgesetzte „Normalität“ der Eltern könnten schnell in ein mörderisches Szenarium führen. In nahezu jedem Bild schwingt eine entsprechende Bedrohung mit. Doch Wanda – und damit fährt der Film dem Zuschauer unter die Haut – erlebt ganz Alltägliches. Dem will sie entkommen, indem sie Familienglück erzwingen möchte. Wie sie das unternimmt, hat sie, und das ist ein bitteres Finale, offenbar die Spielregeln der braven Bürger kapiert: Immer nur lächeln, egal wie dreckig es einem geht, nur nie das Gesicht verlieren, die eigene Lebenslüge selbst glauben.
Peter Claus
Draußen ist Sommer, von Friederike Jehn (Deutschland/ Schweiz 2012)
Bilder: Alpha Medienkontor
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