Zum dritten und damit letzten Mal: ein Ausflug in die Hölle des Menschlich-Allzumenschlichen – Dank Autor und Regisseur Ulrich Seidl. Komisch ist das wieder, auch bitter, doch vor allem – Überraschung! – geradezu zartfühlend.
Zunächst kommt einem das Stichwort „Schönheitswahn“ in den Sinn. Der hat ja inzwischen auch Jugendliche ergriffen, wobei’s doch wohl vor allem die Eltern mit ihren Schnapsideen sind, die den Mädels Wespentaillen und den Jungs ’nen Waschbrettbauch verordnen. Ulrich Seidl greift das auf und nimmt’s als Ausgangspunkt des letzten Teils seiner „Paradies“- Trilogie. Wir lernen die 13-jährige Melanie kennen. Sie wird in ein Sommercamp für Übergewichtige gesteckt. Das Mädchen soll Pfunde los werden. Wichtiger für sie: der das Training begleitende Arzt wird ihr Traummann. Sie verliebt sich zum ersten Mal in ihrem Leben.
18 Jahre ist es mittlerweile her, dass der Film herauskam, doch noch immer provoziert Seidls Doku „Tierische Liebe“ mit ihren schonungslosen Beobachtungen von Menschen, die ihre tierischen Hausgenossen als Kind-, Vater-, Mutter-, Partner-Ersatz misshandeln. Seitdem erwartet man von Seidl ein Missbehagen mit auf den Weg zu bekommen, sich irgendwie im Dunkel eigener Schmuddelphantasien ertappt zu fühlen. Bei den zwei ersten Teilen seiner „Paradies“-Trilogie um das biblische Begriffsterzett Glaube, Liebe, Hoffnung war es auch so. Diesmal aber fehlt der Biss. Seidls Film wirkt verblüffend versöhnlich mit einer recht verhaltenen Erzählweise. Seidl karikiert durchaus den Schlankheitswahn und dessen Folgen mit viel Komik und sogar Slapstick. Der Drill, mit dem die Heranwachsenden den stromlinienförmigen Vorstellungen von Schönheit angepasst werden sollen, wirkt nur albern. Damit geißelt der Österreicher sozusagen im Vorübergehen die ganz auf Äußerlichkeiten abonnierte bürgerliche Gesellschaft in der so genannten westlichen Welt. Aber tatsächlich nur im Vorübergehen, husch-husch, nebenbei. Er hätte ruhig spitzer sein dürfen. Es sieht so aus, als habe er ein wenig zu ängstlich alles Provozieren vermieden, um die Würde der Figuren nicht zu beschädigen. Er beleuchtet die seelische Not von Melanie mit spürbarer Zuneigung zu dem Mädchen. Das Erwachen ihrer erotischen Sehnsucht und die daraus resultierende tiefe Enttäuschung, weil ihre Liebe nicht erwidert wird, fasst Seidl in rührende Szenen.
Melanie ist übrigens die Tochter der Frau, die in „Paradies: Liebe“ die Schatten des Sextourismus unter Kenias Sonne entdeckte und die Nichte der fanatischen Katholikin in „Paradies: Glaube“. Mutter und Tante zeigt Seidl in den Vorgängerfilmen von vornherein als geistig arm und emotional beschränkt. Melanie gesteht er viel Herz zu und durchaus auch Verstand. Irgendwann möchte man das Mädchen einfach mal tröstend in den Arm nehmen. Allerdings wird Ulrich Seidls bittere Botschaft deutlich: Eine Welt, in der die Erwachsenen nur noch in engsten Grenzen leben, geistig und emotional geprägt von Vorurteilen und Geldgier, kann Kindern und Jugendlichen keine Zukunft bieten.
Hauptdarstellerin Melanie Lenz, Schülerin ohne Schauspielerfahrung, zeigt die innere Verzweiflung Melanies klar, schnörkellos, und sehr wirkungsvoll. Mit jugendlich-linkischer Körpersprache und in sehr knappen Dialogen, die meist improvisiert erscheinen, bringt sie die Unsicherheit der Pubertierenden zum, Ausdruck. Nichts wirkt da angeschafft, gar gekünstelt. Sicherlich verkörperte die zur Zeit der Dreharbeiten wirklich 13-Jährige in der Hauptsache sich selbst. Damit beleuchtet sie die Schwierigkeiten des Erwachsenwerdens aufs wirkungsvollste – und wird zum Clou des Films!
Peter Claus
Paradies: Hoffnung von Ulrich Seidl (Österreich/ Frankreich/ Deutschland 2012)
Bilder: Neue Visionen
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