Das Schicksal tost. Die Emotionen peitschen. Das Publikum bricht kollektiv in Tränen aus. – Kitsch pur? Mitnichten. Das belgische Filmdrama landet nicht einen Moment in den Niederungen des Banalen.
Der Ruf der Melodramen ist dahin. Die Flut an pilcherndem TV-Quark ist Schuld. Meisterwerke, wie sie der Deutsche Detlef Sierck unter dem Namen Douglas Sirk vor allem in den 1950er Jahren in Hollywood drehte, gibt’s nur noch sehr, sehr selten. Hier ist nun endlich mal wieder eins.
Der 2009 mit „Die Beschissenheit der Dinge“ bekannt gewordene belgische Drehbuchautor und Regisseur Felix Van Groeningen erzählt eine (auf einem Theaterstück basierende) Lovestory zweier Künstlernaturen. Die Geschichte von Tätowiererin Elise (Veerle Baetens) und Bandmusiker Didier (Johan Heldenbergh) wird von ihm mit geradezu hemmungsloser Lust am Schwelgen in überbordenden Emotionen erzählt. Gekrönt wird die Liebe des Paares durch die Geburt von Tochter Maybelle (Nell Cattrysse). Doch das Kind erkrankt schwer. Die Liebenden sind gezwungen, über Leben und Tod ihres Kindes zu entscheiden. Und es kommt noch schlimmer. Von Glück ohne Ende kann nicht die Rede sein. Zerbricht das Paar daran?
Im Februar gab es am Ende der Berlinale in der Sektion Panorama den Publikumspreis. Zu Recht. Denn der wuchtige Film besticht nicht allein mit dem Mut zu starker Emotionalität. Wie einst Sirk, etwa in „Written on the Wind“ (1957) oder „Imitation of Life“ (1959), setzt Van Groeningen neben aller ausgeklügelten Psychologisierung auf soziale Genauigkeit und damit auf ein stimmiges Gesellschaftsbild. Der Kampf der Eltern gegen Ängste und Schmerz, ihr Miteinander und auch ihr Gegeneinander, sind in einem nachvollziehbaren Alltag und einem glaubwürdigen Milieu verankert. Schon allein dadurch wird es den Zuschauern überaus leicht gemacht, sich in die Protagonisten hinein zu denken und zu fühlen. So fremd ihre Geschichte dem Einzelnen (hoffentlich!) ist, so bekannt sind doch die Umstände ihres Daseins. Gefasst sind die in kluge Bildkompositionen, die den Schauspielern tatsächlich Seelenlandschaften eröffnen, Räume, die das Innere der Figuren spiegeln, ohne je überzogen zu wirken. Wohl jeder kennt aus eigenen Erfahrungen das Spannungsfeld von Atheismus und Glaube, Nüchternheit und Romantik. Auch darum wähnt man sich schon kurz nach Filmbeginn als Teilnehmer am Geschehen.
Der optischen Gestaltung mit ihren satten Farben entspricht die akustische. Ein greller Soundtrack dominiert. Bild und Ton steuern die Gefühle des Publikums nach klassischer Kintopp-Manier dahin, wo Felix Van Groeningen sie haben will. Selbst sehr kühle Naturen dürften sich dem nicht entziehen können. Sogar sie sollten also ein Taschentuch extra einstecken. Das ist so wegen der sozialen Verankerung der Figuren und weil deren Auf und Ab nie in der billigen, durchweg konstruiert anmutenden Art von 3-Groschen-Romanen gezeichnet wird. Spätestens hier müssen die bezwingenden Leistungen der Akteure gewürdigt werden. Veerle Baetens und Johan Heldenbergh stehen scheinbar die ganze Zeit „voll unter Strom“. Die Not von Elise und Didier ist groß, also sind es auch die Gesten der Schauspieler. Die aber beherrschen die Kunst, immer genau im richtigen Momenten abzubremsen, dem Publikum mit kleinen Momenten des Verharrens die notwendigen Atempausen vor dem nächsten Sturm zu gönnen. Ihrer Klasse ist es vor allem zuzuschreiben, dass sogar das sehr, sehr deutliche Statement zum Themenkreis Religion und Stammzellenforschung nicht einen Moment lang aufgesetzt wirkt. Der Präsenz der Darsteller ist zudem zu danken, dass die etwas vertrackte Erzählweise voller Verweise auf die Zukunft und Rückblenden überschaubar bleibt und den Fluss der Gefühle nicht stört. Der steuert couragiert auf einen Umstand hin, um den jeder weiß, der aber weithin verdrängt wird: die nicht zu verhindernde Allmacht des Todes. Das ist erschreckend. Doch man verlässt das Kino keineswegs deprimiert. Denn wie im wahren Leben ist es auch hier: neben allem Tragischen ist immer auch Heiteres zu entdecken. Schöne Erkenntnis: Tatsächlich lässt sich noch aus dem Schlimmsten Kraft ziehen, sogar Lebensfreude. Man geht erstaunlich beschwingten Schrittes nach Hause.
Peter Claus
The Broken Circle, von Felix Van Groeningen (Belgien 2012)
Bilder: Pandora
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