Zweifelhafte Vergnügungen hat das Kino ja immer mal parat. Seit Jahren etwa frage ich mich, wieso sich weltweit Millionen am Sterben unzähliger Opfer der Titanic-Katastrophe ergötzen können. Mögliche Antwort: Der Kitsch des Märchens der erfundenen Lovestory ist durch all das Elende noch schöner und wirkungsvoller. Aber diesmal? Wir dürfen im Tagebuch des Schreckens blättern, im Tagebuch von Natascha Kampusch. Ihre Entführung, wohl eines der spektakulärsten Verbrechen in der jüngeren europäischen Geschichte, wird nacherzählt, wird, man muss es so deutlich sagen, vermarktet.
Kurz zur Erinnerung: 1998 wurde Natascha Kampusch als Zehnjährige in Wien auf dem Weg zur Schule entführt. Erst als 18-jährige kommt sie frei. 3096 Tage dauert das Gefangensein. Und so heißt auch ihr Erinnerungsbuch, das dem nun in den Kinos anlaufenden Spielfilm der deutsch-amerikanischen Regisseurin Sherry Hormann als Vorlage diente: „3096 Tage“. Warum dieser Film? Eine schlüssige Antwort auf diese Frage findet sich nicht. Der Anspruch, mit einem Kammerspiel voller Psychothrill und Krimispannung unterhalten zu wollen, sollte doch wohl ausgeschlossen werden können. Oder etwa nicht? Das Leid, das die wirkliche Natasche Kampusch durchlitten hat und das sie wahrscheinlich ihr gesamtes Leben lang nicht wird verarbeiten können, verbietet solches aus moralischen Gründen. Oder wirft die Filmindustrie für zu erwartenden hohen Profit alle Moral über Bord?
Das Presseheft, das der Verleih hierzulande an Kritiker verteilt, lässt Stutzen. Da ist zu lesen, dass dem 2011 verstorbenen Produzenten und Regisseur Bernd Eichinger, der einen ersten Drehbuchentwurf hinterlassen hat, und dem mit ihm befreundeten Produzenten Martin Moszkowicz die Frage wichtig war, „wie man eine Geschichte spannend erzählt, deren Ausgang jeder Zuschauer bereits kennt“. Also doch: Ausverkauf aller Werte und Entertainment um jeden Preis, auch den der moralischen Fragwürdigkeit? Man möchte es einfach nicht wahr haben! Lieber hält man sich an eine andere Quelle im Presseheft. Regisseurin Sherry Hormann erzählt, sie habe die elfjährige Amelia Pidgeon, die Natascha Kampusch als Kind verkörpert, beim Kennenlernen gefragt, warum sie in diesem Film mitspielen wolle. Die Antwort des Mädchens: „Ich mache das für Natascha.“ Und: „Sie hat das alles überlebt. Vielleicht werde ich auch mal entführt. Wenn es passiert, möchte ich wissen, wie man es schafft, zu überleben.“ Das sind ehrenwerte Absichten. Der Film aber löst sie nicht ein. Gezeigt wird Bekanntes: Entführung, Eingeschlossensein, Drangsal, Terror, Aufbegehren, Flucht. Auch Unbekanntes wird sichtbar, etwas, was Natascha Kampusch nie erzählt und worüber sie auch nicht in ihrem Buch gleichen Titels geschrieben hat, nämliche eine sexuelle Beziehung zwischen dem Entführer und ihr selbst. Spitzt der Film hier zu, um die Vermarktung des Verbrechens „attraktiver“ zu machen? Es drängt sich einem der Gedanke auf, dass doch wahr ist, was man nicht wahr haben möchte.
Gezeigt wird ein Kammerspiel: unschuldiges Kind und psychopathischer Peiniger werden vorgeführt. Das ist eine fast nüchterne Fallstudie. Gesellschaftlich Relevantes wird dabei nicht deutlich. Weder wird thematisiert, wieso die Polizei Spuren, die zum Entführer führten, nicht verfolgt worden sind, noch wird deutlich, mit welcher Gier und Hemmungslosigkeit sich die Vertreter aller Medien nach ihrer Befreiung auf Natascha Kampusch gestürzt und sie noch einmal zum Opfer gemacht haben. Nicht einmal das, was von Literaten, Malern, Dramatikern und anderen Künstlern seit Jahrzehnten gern als „morbide dunkle Seele Österreichs“ gebrandmarkt wird, klingt in dem Film auch nur an.
Der Film beginnt mit einer beeindruckenden Szene: Eine junge Frau, man ahnt, dass es Natascha Kampusch (Antonia Campbell-Hughes) ist, fährt Ski. Ihre Figur hebt sich geradezu grell vom klaren Weiß der Berglandschaft ab. Aus dem Off sagt plötzlich eine mädchenhaft-sanfte Stimme: „Es war klar… nur einer von uns beiden würde überleben… Und das war ich, letztendlich… Und er nicht.“ Die schlichte formale Eindringlichkeit dieses Auftakts bleibt weitestgehend erhalten. Es gibt so gut wie keine Musik, die das Gezeigte emotional aufputscht. Die Dialoge sind auf das Nötigste beschränkt, verzichten auf vordergründige Verweise, psychologisieren zum Glück nur gelegentlich mit Sätzen Nataschas an ihren Entführer Wolfgang Priklopil (Thure Lindhardt) wie „Du bist genauso an mich gefesselt wie ich an Dich.“ Zum Teil erhebliche Zeitsprünge werden durch einfache Einblendungen, wie beispielsweise „Tag 3“, plausibel. Die von Altmeister Michael Ballhaus geführte Kamera setzt auf kühle Distanz, sie beobachtet die Akteure, den engen Räumen angepasst, mit allenfalls kleinen Bewegungen, die denen der Protagonisten entsprechen. Nur ab und an erlaubte sich Ballhaus Extravaganzen, etwa wenn er Natascha als Kind (verkörpert von Amelia Pidgeon) wirklich extrem nahe kommt. Die Inszenierung ist besonnen, Spekulatives bleibt erfreulicherweise aus, selbst die Sexszenen sind geradezu dezent. Nur ist nicht zu spüren, warum Sherry Hormann diesen Film unbedingt inszenieren musste, welches Anliegen sie hat. All die Kunstfertigkeit, Integrität und die absolute Klasse der Schauspieler schaffen es nicht, die Charaktere von Natascha Kampusch und Wolfgang Priklopil zu erhellen und dem Film damit eine Seele zu geben. Es wird nicht einmal ansatzweise klar, wie die Handelnden tun können, was sie tun, woher beispielsweise das zehn Jahre gefangen gehaltene Mädchen die unglaublich erscheinende psychische wie physische Kraft nicht allein zum nackten Überleben, sondern schließlich sogar zur Flucht nimmt. Je länger der Film dauert, umso größer wird die Ratlosigkeit des Betrachters.
Am Ende des Films gibt es eine Szene, die auf das verweist, worüber ein Film lohnte: Natascha Kampusch verlässt die Polizei. Sie muss sich eine Decke überwerfen, um so halbwegs den Fotografen und Fernsehteams zu entgehen. Wie hat sie eigentlich die Jagd durch die Medien ausgehalten? Wie überlebt Natascha Kampusch, seit ihr die Flucht aus dem Keller gelang? Was empfindet sie gegenüber einer Gesellschaft, die sich auch dadurch „auszeichnet“, dass es kaum mehr moralische Tabus gibt, sei es in der Darstellung von Gewalt oder der von Sexualität? Was denken sich eigentlich „Journalisten“, die einen Menschen wie Natascha Kampusch wegen einiger lumpiger Schlagzeilen hetzen? Es täte unserer Gesellschaft gut, über solche Fragen nachzudenken, auch und gerade im Kino, mit einem wirklich anspruchsvollen Spielfilm. Der fehlt weiterhin.
Peter Claus
3096 Tage, von Sherry Hormann (Deutschland 2013)
Bilder: Constantin Film
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1. März 2013 um 12:41 Uhr
Manfred H. Freude via Facebook:
Welch ein Hohn ihr die Biografie, die ja Wahrheit ist zu verbieten.mit der Begründung: Das Leid, das die wirkliche Natasche Kampusch durchlitten hat und das sie wahrscheinlich ihr gesamtes Leben lang nicht wird verarbeiten können, verbietet solches aus moralischen Gründen. Es ist wahr und man muss erinnern und akzeptieren. Nicht wie im Glauben, wo wir eine unsägliche Geschichte glauben müssen, die der gekreutzigte und nicht einmal seine Jünger selbst aufgeschrieben haben.
1. März 2013 um 13:21 Uhr
Lieber Manfred H. Freude,
danke für Ihren Kommentar. Habe ich mich missverständlich ausgedrückt? Es geht nicht darum, Natatscha Kampusch zu verbieten, Ihre Biografie zu veröffentlichen. Es geht darum, dass der Film in hohem Maße den verdacht aufkommen lässt, dass diese Biografie für Geschäftemacherei missbraucht wird.
Freundlich grüßt Sie
Peter Claus